Aufgabenarten

"Ihr denkt immer über Selbstverwirklichung nach und darüber: »Was tut mir gut.« Ich bin noch nie, weder als junger Mensch noch als Erwachsener, darauf gekommen, über Selbstverwirklichung nachzudenken. Es gab immer [am besten selbstgestellte!] Aufgaben, und die musste man machen."
(Marion Dönhoff; "musste man [!] machen" hört sich dabei allerdings arg preußisch an - eine Einstellung, die sich in der deutschen Geschichte als extrem missbrauchbar erwiesen hat. Wichtig daran ist wohl, dass der Mensch nicht in sich selbst schmoren und alles nur sich selbst zuliebe tun darf [wodurch er sich von aller Außenwelt isoliert], sondern eine äußere Aufgabe braucht.)

Es gibt in der Mathematik verschiedenste Aufgabenarten:

All diese verschiedenen Aufgabenarten erfüllen je nach Unterrichtsphase ihren Zweck, keine ist besser oder schlechter.

(Und jede Einseitigkeit [wie auch bei Methoden] ist sowieso nur entlarvende Ideologie.)

Ein fataler Denkfehler scheint es mir aber zu sein, die Anwendungsaufgaben - wie neuerdings üblich, ja geradezu Glaubensbekenntnis - für der Weisheit letzten Schluss bzw. die Obermenge aller anderen Aufgaben zu halten. Etwa so, als sei eine Anwendungsaufgabe automatisch "selbstlernend" oder "motivierend".

Und auch die (angeblich) fatal schlechten Ergebnisse deutscher SchülerInnen in TIMMS beweisen keineswegs, dass nun dringend Anwendungsaufgaben angesagt sein müssen, sondern eher, dass deutsche SchülerInnen die (Inner-)Mathematik nicht durchdrungen haben.

Nein, die Überbetonung von Anwendungsaufgaben ist schlichtweg Ausläufer der derzeitigen blindwütig-kurzsichtigen Wirtschaftsideologie, die allein auf Verwertbarkeit (von Menschen!) hinausläuft.

Der Tendenz zu Anwendungsaufgaben ist auch aus rein mathematischen Gründen zu widersprechen: Mathematik

(das sind wir uns schuldig und hat nichts mit fadem Rückzugsgefecht bzw. einem Dementi zu tun, das letztlich nur beweist, was es widerlegen möchte)

Der Hauptgrund, Mathematik im Fächerkanon der Schulen zu führen, ist gerade nicht ihre Anwendbarkeit, sondern ihre ganz eigene "strenge" Denkweise (in Abgrenzung von und Ergänzung zu anderen, ebenso wichtigen Fächern bzw. Denkweisen). Mathematik ist da eher Philosophie.

Wer heute Anwendungen überbetont, ist entweder keinE MathematikerIn - oder einE schlechteR!

Und überhaupt - darauf kann man derzeit gar nicht deutlich genug insistieren! - ist das Gymnasium ausdrücklich nicht dazu da, direkt auf Anwendungen und Berufe vorzubereiten!
"Nachhaltigkeit" - um ausnahmsweise mal eins der modischen autoritären Schrottwörter zu benutzen - heißt ja gerade nicht, SchülerInnen auf die bestehenden Anwendungen vorzubereiten, sondern ihnen Rüstzeug (Denk- und Herangehensweisen) mitzugeben, damit sie sich in zukünftige, noch nicht erahnbare Anwendungen einarbeiten können:

Eine schon differenziertere Sicht auf die Problematik bietet beispielsweise Hans Werner Heymann:

"Mathematik soll angewendet werden. [...] Dabei muss es nicht immer um Probleme gehen, mit denen die Schüler unmittelbar zu tun haben. Das wäre ein zu hoher Anspruch. Aber es sollten doch nachvollziehbare Fragestellungen sein, die erkennen lassen, dass man diese Probleme mit Mathematik lösen kann."

Besonders interessant finde ich da nebenbei Aufgaben (oder noch lieber Aufträge bzw. sogar Thesen), die 

  1. anfangs gar nicht offensichtlich mathematisch sind und
  2. eben auch nicht nur mathematisch (lösbar) sind,

also z.B.

"Ihr [SchülerInnen] werdet [später, wenn Ihr berufstätig seid] 50 % Eures Gehaltes für unsere [der LehrerInnen, alten Leute] Rente abzwacken müssen, wir werden keine mehr bekommen."

Bild

(zitiert nach: Der Spiegel Nr. 7, 12.2.01)

Vorstellbar wäre da ein Einstieg im Fach Sozialwissenschaften - und dann erst eine Kooperation mit Mathematik, die auch erst von daher zur Statistik übergeht.

In letzten Zitat Heymanns zeigt sich zwar noch immer die Priorität der Anwendungen, aber es wird nicht leichtfertig vorausgesetzt, diese seien automatisch schon motivierend und lebensnah.

(sie können teuflisch lebensfern und zudem extrem schwierig mathematisierbar sein)

Schon nicht mehr ganz so einseitig anwendungsorientiert ist Heymann, wenn er vorschlägt,

"[...] ab und zu mal eine Phase einzubauen, in der sich Gruppen einem interessanten [genauso gut innermathematischen!] Problem widmen, bei dem noch nicht klar ist, wie am Ende das Ergebnis aussehen wird."

(und dann - welch ein peinliches [entlarvendes?] Eigentor, was für ein Rohrkrepierer! - ist auch er sich nicht zu schade, von "Qualitätsverbesserung" zu schwafeln)

Das eigentliche Problem spießt Heymann aber mit folgendem auf:

"Sehr häufig wird im Mathematikunterricht eine künstliche Trennung zwischen dem Alltagsdenken und dem mathematischen Denken erzeugt [!]. Schülerinnen und Schüler haben häufig das Gefühl, dass das Denken, mit dem sie sonst in ihrem Leben [durchaus!] zurecht kommen, im Fach Mathematik überhaupt nicht gefragt ist."

Genau da beginnt meine Mathematik jenseits der billigen Frage, ob Anwendungsorientierung oder nicht:

(Fragestellungen, die mir im üblichen Unterricht erheblich zu kurz kommen:)

(nicht bestimmte [arg seltene] Anwendungen von Mathematik, sondern Vorgehens- und Schlussweisen in oftmals völlig unmathematischen Gebieten)

in den ganz normalen, d.h. innermathematischen Unterricht einbringen?

Was ich damit meine:

Solch simpel-alltägliche Erkenntnis ist aber einerseits herzerfrischend banal (Mathematik also gar nicht so schwer), andererseits kann man da aber doch auch erleichtert aufatmen: man stelle sich mal vor, was für ein gesellschaftliches Chaos (schon allein beim Einkaufen im Supermarkt) zustande käme, wenn je nach Wahl der ersten zwei Zahlen verschiedene Ergebnisse heraus kämen (wenn man also immer genauestens darauf achten müsste, in welcher Reihenfolge man einkauft bzw. seine siebenundzwanzig Sachen aufs Kassenband legt)!

PS: am problematischsten scheint mir der lateinische, also für viele heute nichtssagende Name "Assoziativgesetz" (und dementsprechend auch "Kommutativ-" und "Distributivgesetz"): einerseits müssen SchülerInnen natürlich irgendwann die nunmal übliche Fachterminologie lernen, um sich mit anderen MathematikerInneN (später evtl. auch international) unterhalten zu können; andererseits ist mir "Klammerverschiebungs-" oder "Anordnungsgesetz" (bzw. "Vertauschungs-" und "Aufteilungsgesetz", also die Übersetzung aus dem Lateinischen) doch erheblich lieber, weil suggestiver.