Wie an den Haaren herbei gezogen vermeintliche Anwendungsbezüge der Bruchrechnung oftmals sind, wird auch daran klar, dass
eine runde Sache meist ein Kuchen ist ("Tortendiagramme"),
eine rechteckige Sache aber meist eine Pizza - eine nostalgische Reminiszenz an die gute alte Zeit, in der Muttern die Pizza noch selbst auf einem Backblech machte, während heutzutage jede Fertigpizza rund ist - außer die im freien Straßenverkauf und die "Familienpizza" von Aldi.
Es ist doch immerhin bemerkenswert, dass in der Bruchrechnung andauernd Kuchen- und Pizzaaufgaben vorkommen, aber nie echte Kuchen und Pizzas zerschnitten werden
(... was geradezu Grundpproblem des normalen Matheunterrichts ist: wann denn z.B. werden in der Körpergeometrie mal echte Zylinder, Kegel, Pyramiden ... gebaut oder zerschnitten; vgl.
).
Warum tut man das nicht?
vermutlich, weil es im normalen Unterricht zu aufwendig wäre - und außerdem in einer hübschen Tortenschlacht enden würde. Zudem neigen SchülerInnen mit Recht dazu, Kuchen und Pizza wegzuspachteln, bevor sie damit überhaupt Bruchrechnung treiben konnten.
, weil man anscheinend darauf vertraut, dass SchülerInnen "im richtigen Leben" schon oft Kuchen und Pizzas zersäbelt haben, das Bild dieser Tätigkeit also längst internalisiert ist und darauf nur noch angespielt werden muss.
"Man" befindet sich mit der Anspielung auf echte Torten bzw. Pizzas schon auf halbem Wege zur Abstraktion
(und wie schon gesagt: die Fragestellungen sind sowieso völlig wirklichkeitsfremd).
Aber kann und darf man denn so selbstverständlich voraussetzen, dass die SchülerInnen jemals echte Kuchen und Pizzas zerschnitten haben? Ich kenne eine Menge Jugendliche, denen jegliche "hausfrauliche" Betätigung von Mami abgenommen wurde - und Papi tut zuhause ja eh keinen Handschlag.
Müsste die richtige Reihenfolge nicht sein?:
echte Torten mit einem Messer zerschneiden (und mit ihnen rechnen),
Papiertorten mit einer Schere zerschneiden
(im Hinterkopf noch immer die Vorstellung einer echten Torte),
mit Papiertorten hantieren, ohne sie noch zu zerschneiden
(ein virtuelles Umordnen allein im Kopf),
mit Papierkreisen hantieren
(wobei zunehmend die Vorstellung "Torte" verschwindet)
mit Kreisen im Kopf "hantieren"
(im Hinterkopf noch immer die Vorstellung eines Papierkreises),
mit abstrakten Brüchen auf dem Papier und im Kopf "hantieren"
(wobei erst jetzt jede anschauliche Vorstellung [echte Torte, Papierkreis] abhanden gekommen ist; ist sie es wirklich, zerlegen wir nicht alle noch immer irgendwelche Kreise, Rechtecke ...?).
Und vertraut man nicht allzu leicht darauf, dass ein einziger solcher Schnelldurchgang vom Konkreten zum Abstrakten reicht - und die SchülerInnen dann von selbst mit abstrakten Brüchen "hantieren" können?
(Man [LehrerInnen] macht am Anfang der Unterrichtseinheit "Bruchrechnung" einige neckische Spielchen und bringt auch Modelle mit, aber spätestens bei den Bruchrechenregeln wird dann nur noch mit abstrakten Brüchen "hantiert"; vielleicht sogar mit gutem Grund?:
)
Sollte solcher Durchgang vom Realen zum Abstrakten nicht vielmehr immer wieder stattfinden?
Ich plädiere bei Anwendungsaufgaben ja nur für Ehrlichkeit:
entweder zerschneidet man echte Torten und Pizzas,
oder man gibt erst gar nicht vor, Torten und Pizzas zu zerschneiden, sondern spricht nur von Papierkreisen, und selbst bei diesen spricht man nur von "zerschneiden", wenn sie tatsächlich mit einer Schere zerschnitten werden.
Oftmals wird gesagt, den verschiedenen "Lerntypen" zuliebe müsse (laut Bruner) ein Stoff
enaktiv (durch Handlung),
ikonisch (durch Bilder)
und symbolisch (vor allem durch Sprache)
(wobei diese Schritte nacheinander oder parallel stattfinden können)
vermittelt werden.
Dabei sei aber daran erinnert, was das Wort "symbolisch" bzw. "Symbol" zumindest laut Lexikon bedeutet:
Symbol [griechisch] das, allgemein: ein wahrnehmbares Zeichen beziehungsweise Sinnbild (Gegenstand, Vorgang, Handlung, Zeichen), das stellvertretend für etwas nicht Wahrnehmbares [farbliche Hervorhebungen von mir, H.St.], einen Sinngehalt, oft einen Komplex von Sinnbezügen steht; im engeren Sinn jedes Schrift- oder Bildzeichen mit verabredeter oder unmittelbar einsichtiger Bedeutung. In diesem Sinne spielen Symbole in Religion, Kunst, Literatur, aber auch in den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle, etwa physikalische, chemische (chemische Elemente) und mathematische Symbole (mathematische Zeichen), Symbole in der Datenverarbeitung oder Technik (z.B. Schaltzeichen). [...]
(2002 Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG)
Im üblichen Bruchrechnungsunterricht
(wie überhaupt in allem üblichen Mathematikunterricht?)
wird aber oftmals übersehen, dass Symbolik
(und damit meine ich insbesondere die Bruchschreibweise)
zweischrittig ist:
"stellvertretend für etwas durchaus Wahrnehmbares",
und erst die eigentliche Wissenschaft: "stellvertretend für etwas nicht Wahrnehmbares"
(oder gar für etwas "außerhalb" gar nicht Existentes!?).
D.h. eine vierschrittige Pädagogik
(enaktiv - ikonisch - symbolisch [1.] - "eigentliche" Wissenschaft: symbolisch [2.])
wird sträflich zu einer dreischrittigen verkürzt
(enaktiv - ikonisch - "eigentliche" Wissenschaft: symbolisch [2.]),
es fehlt also völlig der Übergang.
| Man springt ins Abstrakte
statt zunehmend zu abstrahieren.
|
Die entscheidende Lücke entsteht bei der Bruchrechnung also, wenn
von "Kuchenanteilen" allzu schnell
zur Bruchschreibweise gesprungen und dann nur noch letztere weiter verfolgt wird
(der simpelste und gleichzeitig durchaus verständliche Fehler ist dann die Verwechslung von Zähler und Nenner [nicht nur der Begriffe], also die Unklarheit über
und deshalb geradezu die Gleichsetzung z.B. von 3/4 und 4/3 und damit verbunden der völlig fehlende Sinn für die Größenordnung von Brüchen).