Clairauts pseudohistorischer Weg
Alexis-Claude Clairaut (1713 – 1765)
So eine Einigkeit quer durch die Jahrhunderte tut gut: da schreibt Clairaut 1741 in seinem Buch "Elémens de Géométrie", was ich schon genauso gedacht habe:
"[...] ich meyne, den Verstand zum Nachforschen und zum Entdecken zu gewöhnen: denn ich vermeide sorgfältig, einen einzigen Satz unter der Gestalt eines Lehrsatzes vorzubringen, nämlich, von derjenigen Beschaffenheit, da bewiesen wird, daß eine Wahrheit ist, ohne zu zeigen, wie man dahin gelanget ist, sie zu entdecken [...] Solchergestalt bemerken die Anfänger bey jedwedem Schritte, den man sie thun lässet, den Bewegungsgrund des Erfinders: Und hierdurch erlangen sie desto leichter den Trieb zum Erfinden."
"Ich habe bey mir gedacht, es müsse doch diese Wissenschaft [Mathematik], wie alle andere, nach und nach entstanden seyn [...] und es könne dieser erste Fortgang unmöglich über den Verstand der Anfänger seyn, weil es ja Anfänger waren, welche ihn machten."
Nun wußte Clairaut natürlich genau, daß oftmals verschütt gegangen ist, wie genau Mathematiker auf Sätze gekommen sind. Daß diese Wege vergessen wurden, hat wohl mehrere Gründe:
schlicht und einfach schlechte historische Überlieferung. Wir wissen beispielsweise einfach nicht mehr, ob auch wirklich Pythagoras den "Satz des Pythagoras" bewiesen hat;
interessierte oftmals der Weg nicht mehr, wenn erstmal das Ziel erreicht war;
ist die Mathematik – wie keine andere Wissenschaft - oftmals so suggestiv, daß ein Satz, wenn er erstmal bewiesen ist, unumstößlich, ewig wahr und objektiv erscheint, jeder subjektive Entdeckerweg also ausgelöscht wird;
ist das Leugnen der Subjektivität vielleicht auch eine typische Ideologie der Mathematiker: alle subjektiven Spuren werden verwischt, um Allgemeingültigkeit zu beanspruchen. Gerade die großen Mathematiker (wie auch Naturwissenschaftler) haben aber oftmals ihre Entdeckungswege reflektiert.
Zentral an der Beseitigung alles Subjektiven beteiligt war nebenbei der "Fürst der Mathematik" Carl Friedrich Gauß, der sagte, ein Werk müsse vollständig dastehen, einfach und überzeugend, ohne im geringsten die Mühe zu verraten, mit der es vollbracht wurde. Eine Kathedrale sei keine Kathedrale, sagte er, solange nicht das letzte Gerüst entfernt und weggeräumt sei, und dementsprechend hat er ewig an seinen Aufsätzen gefeilt, um alle Spuren der Bearbeitung zu beseitigen; dementsprechend schwer zu verstehen waren seine Aufsätze aber auch sogar für Fachleute.
Da funktioniert hohe Mathematik wohl wie viele hohe Kunst: auch "Erlebnisgedichte", also Lyrik, die wirkt, als sei sie spontaner Ausfluss eines Erlebnisses, wird natürlich in einem langen Prozess und mit viel Mühe hergestellt, ja, die Mühe besteht oftmals gerade darin, sich selbst zu verbergen, um eben Spontaneität der Entstehung zu suggerieren - und somit spontane Rezeption zu ermöglichen.
Nur enthält mathematische Kunst eben keine Erlebnisse und keine Menschlichkeit mehr, da siegt die nackte Brillanz.
ist in der Mathematik wie auch allen anderen Wissenschaften und Künsten der entscheidende Kick des "Heureka" oftmals im Nachhinein so schwer rekonstruierbar. Selbst die Entdecker wußten oftmals nicht mehr genau, wie sie auf etwas gekommen waren, es erschien ihnen wie ein Musenkuß, und sie bauten im Nachhinein Erfindungsgeschichten, drehten die Kausalität um und suchten zur Folge eine (fiktive) Ursache.
Aus der Schwierigkeit, herauszufinden, wie die ursprünglichen Entdecker auf etwas gekommen sind, hat Clairaut die einzig wahre Konsequenz gezogen: er geht bewußt einen "pseudohistorischen" Weg, d.h., er erfindet mit seinen Schülern die Erfindung neu.
Es hieße dann beispielsweise nicht "Pythagoras ist soundso auf seinen Satz gekommen", sondern "Pythagoras hätte soundso auf seinen Satz kommen können".
Ich hatte Clairauts Weg als "die einzig wahre Konsequenz" bezeichnet: er macht aus der Not der historischen Unwissenheit eine Tugend:
"Die neue Batavia wurde 1985 in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Dock in Lelystad auf Kiel gelegt, in einem Gebiet, das man der Zuidersee abgerungen hatte. Anfangs kam der Bau nur schleppend voran, aber allmählich gewannen die modernen Schiffbauer an Erfahrung, und dabei wurden viele alte Techniken wieder entdeckt, an denen die Arbeitsweise von Jan Rijksen, dem Konstrukteur der ersten Batavia, deutlich wurde. Auf diese Weise lieferten Vos und seine Leute auch den Archäologen, die sich in Australien um dem Zusammenbau des geborgenen Hecks [der alten Batavia] bemühten, wichtige Hinweise - »Archäologie durch Rekonstruktion und Experiment« wurde zum geflügelten Begriff - [...]"
Zwar ist es manchmal durchaus erhellend, die konkreten Wege einiger Erfinder nachzuverfolgen, weil man dadurch viel über die komplexe Funktionsweise (nicht nur) mathematischer Kreativität erfährt (und daß sie – wie auch künstlerische Kreativität - oftmals weniger logisch als assoziativ, ästhetisch und emotional erfolgt): große Mathematiker funktionieren (ohne nun ihr besonderes Genie zu leugnen) genauso wie "wir"!
Aber es wäre gar nicht gut, wenn alle Entdeckungswege bekannt wären, bzw. wenn sie es wären, sollte man sie den Schülern nicht am Anfang vorstellen, sondern die damaligen Entdeckungswege erst am Ende, nach den selbständigen Entdeckungsreisen der Schüler, zum Vergleich nachreichen: "wir sind soundso drauf gekommen, und jetzt schauen wir uns mal an, wie Pythagoras drauf gekommen ist". Und da gäbe es doch zwei Möglichkeiten: entweder "wir haben denselben Weg erfunden wie Pythagoras, sind also genauso schlau", oder "Pythagoras ist einen anderen Weg gegangen, es gibt also interessanterweise mehrere Wege zum selben Ziel".
Der bloße Nachvollzug bereits bekannter Entdeckerwege wäre (wie der Nachvollzug von Sätzen und Beweisen) allzu suggestiv und würde die eigene Entdeckerfreude (und auch ihren Frust, nach dem die Entdeckung ja nur um so befriedigender ist) nur allzu früh abwürgen: "wieso soll ich es noch beweisen, wo es doch schon bewiesen ist?; mir bleibt ja gar nichts mehr zu tun, ich bin nur ein kulturell Spätgeborener" (vgl. die Frustration des Historismus, wie Nietzsche sie beschrieben hat).
Dennoch: ich muß nicht alles selbst entdecken, ich staune oftmals schon allein darüber, wie andere es entdeckt haben. Es ist ein hübscher Luxus, sich faul im Sessel zurücklehnen und von der Arbeit früherer Generationen profitieren zu können.
"Pseudohistorische" Mathematik ist also Literatur: wir erfinden eine Erfindungsgeschichte.
Diese selbst-erfundene Erfindungsgeschichte hat vor allem den Vorteil, den Fragen und dem Lerntempo des Schülers angemessen zu sein.
Der Lehrer kommt also nicht in die Klasse, um
– wie bis heute üblich – einen Satz ("friß oder stirb") oder
eine Erfindungsgeschichte
hinzuknallen, sondern er muß genau auf die Fragen und Entwicklungsschritte seiner Schüler achten – und dann individuell entscheidende Tips zur Weiterarbeit geben.
Diese Tips sind auch nötig, weil es eine absolute Überforderung wäre, daß ein Schüler "mal eben kurz" und aus dem Nichts einen Satz erkennt und beweist.
Erstens nämlich ist dazu bei einigen Sätzen ein genialer Kick nötig, den nunmal nicht jeder hat: man sollte auch voller Ehrfurcht sagen können: "da wäre ich nie drauf gekommen, und um so mehr bewundere und würdige ich die Leistungen einiger Entdecker": ich bin nicht (auf jedem Gebiet) klein, nur weil andere (auf ihrem Gebiet) groß waren, und die neidlose Anerkennung der Genies ist eine Anerkennung der Menschheit – deren Teil ich bin.
Und zweitens haben ja selbst die großen Entdecker oft Ewigkeiten gebraucht, ja, hat es der Bemühungen ganzer Generationen bedurft, um auf einen Satz und seinen Beweis zu kommen.
"Nachentdecken" kann auch heißen, nicht nur vom ursprünglichen Entdecker, sondern auch von der ganzen folgenden Tradition zu profitieren: es gibt halt oftmals später bessere, d.h. vor allem einfachere und anschaulichere Modelle und Beweise, zumal die ursprünglichen Entdecker ja oft noch gar nicht alle Implikationen ihrer Entdeckungen kannten.
Entdecken kann sowieso nur exemplarisch sein: nicht nur wegen der übergroßen Fülle des (Nach-) zu Entdeckenden, sondern weil der Schüler ja letztlich potentiell auf Neuentdeckungen vorbereitet werden soll.
Mit "selbstentdeckendem Lernen" ist es genauso wie mit "antiautoritärer Erziehung": beide sind wichtige Impulse, aber wenn man sie einseitig durchzieht, läßt man den Schüler nur frustrierend allein.
Das eine ist, dass man die Entdeckungsgeschichte oftmals nicht nachvollziehen kann, sei´s, weil sie schlicht abhanden gekommen ist, sei´s, weil wir gar nicht so einfach hinter unser heutiges Wissen zurück können.
Das andere ist, dass man im pädagogischen Rahmen die Entdeckungsgeschichte (selbst wenn sie bekannt wäre) nicht naiv nachvollziehen darf:
„[...] die meisten Relativitätstheoretiker [heute verstehen] die Theorien Einsteins besser, als Einstein selbst sie je verstand. Die Begründer der Quantentheorie haben in bezug auf das Verständnis ihrer eigenen Theorien viel durcheinandergebracht [...]“
(David Deutsch)
Die frühen Quantentheoretiker haben viel durcheinandergebracht, weil noch viel durcheinander war, sie noch suchten und gerade erst fanden sowie die Konsequenzen ihrer Einzelentdeckungen und damit auch deren Zusammensicht, aber auch spätere Systematisierung und Vereinfachung noch gar nicht kennen konnten.
D.h., es wäre pädagogisch unverantwortlich, die SchülerInnen nochmals dieses Wechselbad durchmachen zu lassen und ihnen die Chance vorzuenthalten, mit den späteren Vereinfachungen und Klarheiten anzufangen. Man würde nur das Wasser trüben.
Es ist also nicht nur unvermeidlich (weil wir halt nicht ganz hinter unser heutiges Wissen zurück können), sondern auch notwendig, die Entdeckungsgeschichte aus einer Perspektive a posteriori zu betrachten und auch in systematisiert-geglätteter Form zu vermitteln (ohne nun aber alleN Entdeckerfrust/-lust gleich mit wegzuglätten).
Auch hier läßt sich also wieder aus der Not (nicht zu können) eine Tugend (nicht zu wollen) machen.
Auch das ist mit „pseudo-historischem Weg“ gemeint.
Und doch sollten die SchülerInnen mal exemplarisch Einblick bekommen, wie anfänglich Schwieriges und unter vielen Geburtswehen Entstandenes erst langsam, aber sicher (auch für sie!) leicht gemacht wurde.
(Vgl. etwa, wie beginnend mit der Familie Bernoulli langsam und über Jahrhunderte hinweg bis hin etwa zu Weierstraß die Infinitesimalrechnung einfacher und exakter gemacht wurde.)
Warum sich Clairauts Gedanken kaum durchgesetzt haben und weitgehend ungehört blieben, hat schon kein Geringerer als Voltaire 1764 mit resigniertem Unterton festgestellt:
"Der verstorbene Herr Clairaut nahm sich vor, die jungen Leute die Grundlagen der Geometrie leicht lernen zu lassen; er wollte zur Quelle zurückkehren und dem Weg unserer Entdeckungen und unserer Bedürfnisse [!] folgen, die jene hervorgebracht haben. Diese Methode schien [!] annehmbar und nützlich zu sein; aber man folgt ihr nicht: Sie erfordert im Lehrer eine Flexibilität des Geistes, der sich den jeweiligen Bedingungen anpassen kann, und eine seltene Anmut [!] in jenen, die der Routine ihres Berufes nachgehen."
Es kommt hinzu: wie soll ein Lehrer, der nie Mathematikgeschichte betrieben, also gesehen hat, wie andere auf ihre Ideen gekommen sind (und dem im Studium auch nie Mathematikgeschichte vermittelt wurde), der aber auch nie seine eigenen Entdeckungen reflektiert hat, denn "Entdecken" vermitteln können!?
Der Weg (u.a. pseudohistorischen ) "selbstentdeckenden" Lernens sollte immer mal wieder und viel öfter eingeschlagen werden, darf aber nicht zur alleinigen Methode hochstilisiert werden. Richard Dawkins hat darauf hingewiesen, dass man nicht Geige spielen können muss, um Spaß an Musik zu haben, ja, dass die Forderung nach eigener Produktion viele Menschen von schöner Rezeption ausschließen würde; schon allein deshalb, weil man ja nicht alles können kann.
Der (pseudo-)historische Weg offenbart noch etwas anderes Hochinteressantes: wie insbesondere Parallelentdeckungen (mit dem dann oftmals folgenden "Prioritätsstreit") beweisen, liegen wissenschaftliche Erkenntnisse sehr viel häufiger, als man denkt, in der jeweils zeitgenössischen Luft: eigentlich ist alles Wichtige schon vorhanden, und es fehlt nur noch das Genie, das das Disparate erkennt (nicht schon alles für selbstverständlich hält) und es frohgemut zusammenwirft bzw. zusammen denkt. Das war bei Newton ganz genauso wie bei Einstein.
Bei allem Respekt vor den Genies, bei all ihrer Unerreichbarkeit suggeriert das doch eben auch: die Ansätze für Neues liegen auch heute auf der Straße, man muss sie nur erkennen und aufheben. Genau das gilt es SchülerInneN "beizubringen", wenn man ihnen Mut für eine offene Zukunft machen will (neudeutsch "lebenslanges Lernen").
In sei mal vorgeführt, wie eine fiktive historische Rekonstruktion aussehen könnte.