Schande über einen Mathematikunterricht, in dem
  und
nicht vorkommen

Eigentlich bin ich ja überzeugter „Inner-Mathematiker“, d.h. mich interessieren kaum die außermathematischen Anwendungsmöglichkeiten der Mathematik, ja, ich empfinde diese - im Gegensatz zur „reinen“ Mathematik - manchmal sogar als schmutzig bzw. Besudelung der reinen Mathematik.

(„Er hat erfolgreich Mathematik studiert und ist dann doch nur Versicherungsmathematiker geworden.“: was für ein „fall of princes“!)

Die Anwendbarkeit der Mathematik ist für mich ansonsten „nur“ eine hübsche

(allerdings höchst erstaunliche)

Dreingabe zur eigentlichen, „reinen“ Mathematik und bestätigt eigentlich nur, was die Mathematiker schon immer wussten.
pää
Die häufige Laien- bzw. Schülerfrage

„wozu braucht man das [= die Mathematik]?“

ist ja wohl rhetorisch gemeint, denn die unterstellte Antwort ist immer:

„»man« braucht »das« [= die Mathematik] natürlich zu nichts, d.h. »es« ist überflüssig wie ein Kropf!“

Dabei bedeutet „man“ meistens „ich“ bzw. „der Laie“ oder „Otto Normalverbraucher“, der ja im „richtigen Leben“ tatsächlich fast nie Mathematik braucht

(weshalb „lebensnahe Mathematikaufgaben“ meistens ein Widerspruch in sich sind)
.

Hingegen braucht „man“ in der heutigen Welt Mathematik, wenn mit „man“ Naturwissenschaftler, Informatiker und Ingenieure gemeint sind. Aber was interessiert das den Laien?!: die mit Mathematik vollgepackten Geräte sind ja nur deshalb so erfolgreich, weil die Mathematik unter den Gerätegehäusen verschwindet und der Laie somit keinerlei Mathematik braucht, um die Geräte erfolgreich zu bedienen.

Ein „reiner“ Mathematiker (wie ich) wird also der Feststellung, dass die Mathematik (meistens) „überflüssig“ sei, erst gar nicht widersprechen, sondern ihr sogar zustimmen, nur dass er das negativ besetzte Wort „überflüssig“ ins Positive wendet: für ihn ist die („reine“) Mathematik Selbstzweck und als solcher z.B. mit Spielen und Kunst vergleichbar, bei denen auch keiner fragt, ob sie (z.B. ökonomisch) verwendbar/verwertbar sind: sie machen einfach Spaß, und das ist doch wohl „Verwendbarkeit“ genug.

(Allerdings hat der Kommerz längst auch Spiele und Kunst gefressen.)

Nun hat aber

,  

 .


Dennoch sollte(n) im Mathematikunterricht ebenfalls

(wobei ja gar nicht geleugnet sei, dass oftmals auch die Anwendungen die Innermathematik bereichert haben).

Ein Beispiel

(oder genauer: zwei Beispiele, die aber etwas gemeinsam haben):

Natürlich waren mir sowohl Malthus als auch Moore

(sowie ihre entscheidenden Erkenntnisse)

seit langem bekannt, aber erst durch die Lektüre des Buchs sind sie für mich „zusammengerückt“, habe ich nämlich ihre gemeinsame Bedeutsamkeit erkannt - und überhaupt erst die Idee für diesen Essay bekommen.

Das Buch ist von einem renommierten amerikanischen Psychiater geschrieben und macht den Versuch,

“Wenn man ein Hammer ist, scheint die ganze Welt aus Nägeln zu bestehen.“: als Mathematiker

(oder genauer: nur ehemaliger Mathematiklehrer)

stolpere ich natürlich über jede Erwähnung von Mathematik in einem nichtmathematischen, also z.B. psychiatrischen Buch.

Bei dem Buch war das neun mal der Fall, und zwar tauchte acht mal das Wort „exponentiell“ auf (und einmal das Wort "linear"):

Fangen wir mit Letzterem, also der „metaphorischen“ Verwendung des Wortes „exponentiell“, anhand nur eines Beispiels an:

„[...] die beträchtlichen Befürchtungen, die ich [= der Autor Allen Frances] bereits vor Trump hatte, haben sich exponentiell verstärkt, während er und seine fidele Bande von Wissenschaftsverleugnern gesellschaftliche Wahnideen absondern, schamlos lügen und die denkbar schlechtesten Entscheidungen bei jeder einzelnen (über-)lebenswichtigen Frage treffen, der sich die Menschheit heute gegenübersieht.“

Hier ist „exponentiell“ wohl kaum in streng mathematischem Sinn gemeint, dass also die Befürchtungen entlang einer Exponentialfunktion gewachsen sind: der Grad von Befürchtungen lässt sich wohl kaum messen und somit auch nicht mit einer mathematischen Funktion beschreiben.

Sondern da wird wohl nur die entscheidende Eigenschaft von Exponentialfunktionen, nämlich ihr rasantes Wachstum, auf außermathematische Befürchtungen übertragen.

(Nebenbei: mit „jeder einzelnen [über-]lebenswichtigen Frage“ ist in dem Zitat schon etwas angesprochen, auf das ich unten zurückkommen werde, um die Bedeutung von Malthus und Moore für den Mathematikunterricht zu begründen.)

Damit aber zu den drei Textstellen in dem Buch , in denen das Wort "exponentiell" im mathematischen Sinn verwandt wird:

  1. :
    1. “Die unvermeidlichen Auswirkungen einer nicht vorhandenen Bevölkerungskontrolle auf den Menschen wurden zum ersten Mal vor zweihundert Jahren von Thomas Robert Malthus beobachtet: »Die der Bevölkerung innewohnende Potenz

[ein Begriff, der hier nichtmal annähernd im mathematischen Sinn gemeint ist]

ist unendlich viel stärker als die Fähigkeit der Erde, die für den Menschen nötigen Subsistenzmittel zu erzeugen.« Malthus erkannte den zentralen demografischen Fakt, dass die menschliche Bevölkerung sehr schnell exponentiell wächst, während die Nahrungsmittelproduktion nur linear zunimmt. Die Bevölkerungsexplosion zwingt uns zu einem Wettlauf in der Nahrungsmittelversorgung, den wir langfristig niemals gewinnen können. So clever unsere landwirtschaftlichen Technologien bei der Steigerung des Angebots auch immer sein mögen, unsere noch größere Fähigkeit, Nachwuchs zu produzieren, muss unvermeidlich zu einer Knappheit des Angebots führen. Sofern nicht relativ »gutartig« durch Geburtenkontrolle, Zölibat, verspätete Eheschließung, Abtreibung und Homosexualität gebremst, wird sich die Bevölkerungszahl vermittels der Schrecken wiederkehrender Hungersnöte, Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen selbst korrigieren.“

  1. "Angesichts exponentiell zunehmender Ressourcenverknappung und Bevölkerungsdruck wird unser Hang zur Kriegsführung wahrscheinlich nicht stabil bleiben. Entweder finden wir schnell eine bessere Methode der Konfliktlösung, oder unsere Kriege werden sich [ebenfalls exponentiell?] an Häufigkeit, Heftigkeit, Brutalität und Destruktivität aufschaukeln."
    1. : "Sie [= die Bewohner der Osterinsel] verwandelten ihre winzige, nicht sonderlich fruchtbare Insel in einen hocheffizienten Garten, was sie zu einem exponentiellen Bevölkerungswachstum von zunächst wenigen Dutzend Menschen auf über zehntausend verleitete."

Die Textstellen b. und c. fügen dem in a. Gesagten kaum etwas hinzu

(außer der angeblich ebenfalls exponentiell zunehmenden Ressourcenverknappung; wobei die Kombination von "zunehmend" und "Verknappung" doch paradox ist und mir sowieso scheint, dass der Begriff "exponentiell" hier - um mal beckmesserisch mathematisch zu werden - falsch benutzt wird).

Deshalb werde ich im Folgenden auf die Textstellen b. und c. nicht weiter eingehen.

  1. :

„Begeisterte Enthusiasten der künstlichen Intelligenz sagen voraus, dass das Mooresche Gesetz des exponentiellen Wachstums der Leistungsfähigkeit von Computern sich höchstwahrscheinlich ad infinitum fortsetzt und Computer die menschliche Intelligenz innerhalb weniger Jahrzehnte einholen werden. Unterdessen werden die Menschen nur sehr langsam [= linear?] klüger, falls überhaupt.“

Schauen wir uns nun mal genauer an, wer und waren und worin ihre uns hier interessierenden Erkenntnisse bestanden:

  1. :


(Vgl. auch   "[was für ein Wort!:] Malthusianische Katastrophe";

Auf die menschenverachtende Schlusspassage „Ein Mensch, sagte er [...]“, die bereits den Sozialdarwinismus, wenn nicht gar Formen der Euthanasie vorwegnimmt, werde ich nicht genauer eingehen.)

  1. :


      (Nebenbei:

      1. werde ich im Folgenden [wie Frances] dreist die „Integrationsdichte“ mit der Rechenleistung gleichsetzen,
      2.  könnten die Quantencomputer der Zukunft die sowieso schon rasend schnell anwachsende Computerrechenleistung nochmals zusätzlich beschleunigen.)

“Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Mathematische Theorien über die Wirklichkeit sind immer ungesichert - wenn sie gesichert sind, handelt es sich nicht um die Wirklichkeit.“
(Albert Einstein)

Vermutlich hatten ja auch weder Malthus noch Moore den Anspruch absoluter mathematischer Exaktheit:

Bei solchen Zukunftsvoraussagen ergeben sich aber drei prinzipielle Probleme:

Vgl. oben

wobei alle drei Zitate schon die bis heute unveränderte Dringlichkeit zumindest der Bevölkerungsexplosion (!) illustrieren, und zwar auch im Schulunterricht.


Natürlich waren mir sowohl die malthusianische als auch Moores Voraussage schon lange bekannt und auch, dass beide mit exponentiellen Funktionen hantierten.

Aber erst durch die Lektüre des Buchs habe ich beide Voraussagen zusammen gesehen:

in irgendeinem inhaltlichen Zusammenhang stünden

(z.B. ),

(genau das ist aber doch so überaus erstaunlich und macht die angewandte Mathematik so überaus erfolgreich: dass


Ich will ja gar nicht behaupten, dass

für Schüler von irgendwelcher „lebensweltlichen“ Bedeutung sind, sofern man unter der „Lebenswelt“ ihr alltägliches Leben in einem überschaubaren und konkret erlebten Umkreis versteht: was wissen Schüler schon von den Entwicklungen der Erdbevölkerung und der Computerrechenleistung?! Oder genauer: sie wissen vermutlich durchaus, dass beide rasant verlaufen, kennen aber kaum Hintergründe

(sondern bei der Bevölkerungsexplosion eventuell nur mehr oder minder offen rassistische Erklärungen:

  ).

Ansonsten spielen die Entwicklungen der Erdbevölkerung- und der Computerrechenleistung sich aber doch in weiter Ferne ab und sind sie

(die Bevölkerungsentwicklung zumindest für Europäer)

sehr abstrakt

(was vielleicht der Hauptgrund ist, weshalb gegen die Bevölkerungsexplosion [wie auch die Klimakatastrophe] so wenig getan wird;

"der" Mensch scheint nicht dazu geschaffen, sich schleichend langwierige Prozesse [z.B. auch die Evolution, die über Jahrmilliarden ablief] anzuverwandeln).

Die im Mathematikunterricht oftmals vorkommende Unterstellung lebensweltlicher Bedeutsamkeit ist meistens nur Anbiederung an tatsächliche oder vermeintliche Jugendinteressen, und die angeblich “lebensweltlichen“ mathematischen „Anwendungs“-Aufgaben sind fast immer nur „eingekleidete Mathematik“, d.h. der Lebensweltbezug ist da in aller Regel nur Etikettenschwindel

("Nage die Anwendungsaufgabe so lange ab, bis nur noch Mathematik übrigbleibt, und löse dann die verbleibende Mathematikaufgabe!")

Mit angewandter (Schul-)Mathematik ist es wie beispielsweise mit Filmanalyse im (Deutsch-)Unterricht:

(wobei 30 Schüler einer Klasse sowieso nicht alle dieselben Lieblingsfilme haben),

weil diese Filme durch genaue Analyse als „minderwertig“ erscheinen und die Schüler somit beleidigt werden könnten

(ganz ähnlich könnten Schüler und ihre Eltern beleidigt werden, wenn man im Deutschunterricht die BILD-Zeitung als Scheißblatt entlarven würde),

Auf die Schul-Mathematik zurückbezogen: man nehme

Solche wichtigen Aspekte der außermathematischen Wirklichkeit können aber

(wie unten noch zu begründen sein wird)

die Bevölkerungsexplosion oder die Entwicklung der Computerrechenleistung.


Als Mathematiklehrer denkt man wohl

immer von der Mathematik aus: beispielsweise die exponentiell verlaufende Bevölkerungsexplosion wird also (wenn überhaupt) genau dann durchgenommen, wenn im Unterricht Exponentialfunktionen dran sind.

(Über diese Einstellung, dass immer nur solche Außenweltaspekte durchgenommen werden, die mit den gerade zur Verfügung stehenden mathematischen Mitteln lösbar sind, lässt es sich trefflich streiten. Vgl.

Insbesondere fallen mit dieser Einstellung alle außermathematischen Aspekte durchs Raster, die nicht komplett mit schulmathematischen Mitteln behandelt werden können - also fast alle.)

Aber zurück zu 

(dem Sündenfall schlechthin!)

immer mehr reglementiert wurden: da hat man als Lehrer kaum Zeit, halbwegs erschöpfend auf außermathematische Anwendungen einzugehen

(obwohl diese doch auch laut den Lehrplänen ach so wichtig sind),

Aus dieser Perspektive ist dann

    ,

(wenn die Außenwelt im Mathematikunterricht überhaupt auftaucht):

 


Goethe ist mal

(lange nach seinem Tod)

vorgeworfen worden, er habe seine Mitmenschen dazu missbraucht, aus ihnen Literatur zu destillieren. Genauso könnte man einer reinen Mathematik, die die Außenwelt nur als Illustration innermathematischer Sachverhalte benutzt, vorwerfen, sie sauge der Außenwelt ihr Blut aus:

Das ist etwa so,

(wenn z.B. Goethe das wüsste, würde er doch vor lauter Wut im Grabe rotieren!)

Sowas ist schlichtweg pervers!


Nun gibt es aber einige "Außenwelt-Themen", die zu wichtig sind, als dass sie im (reinen) Mathematikunterricht

Zu solchen wichtigen "Außenwelt-Themen" gehören

,
(Wie putzig - und blödsinnig!)

(nochmals: wie ich unten begründen werde)

unsere beiden Themen "Bevölkerungsexplosion" und "Entwicklung der Computerrechenleistung".


Da die reine Mathematik völlig unabhängig von der Außenwelt und somit wertneutral ist, wird daraus oftmals geschlossen, dass sie in Schulen nicht für die Erziehung der Schüler zuständig sei

(wenn man mal von Disziplinierungsmaßnahmen absieht, die den geordneten Unterrichtsverlauf sichern und „mathematikintern“ wichtig sind, also z.B. ordentliche Schreibweisen).

Da die Gesetze der Mathematik zudem überhistorisch von Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende gelten, könnte man in Abwandlung des Satzes

auch

“es soll Mathematik geschehen, und gehe die Welt auch [darüber] zugrunde“

oder einfach

sagen.

Ich habe in dem Satz

“es soll Mathematik geschehen, und gehe die Welt [darüber] zugrunde“

das schon im ursprünglichen Satz

„Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“

vorhandene Wort „darüber“ in Klammern gesetzt, um zwei Möglichkeiten zu zeigen:

  1. ohne „darüber“ (= deswegen?): die Mathematik ist unschuldig am (ein beliebtes Wort bei allen Kulturpessimisten:) Weltuntergang, kümmert sich aber auch nicht um ihn, sondern macht weiter wie gehabt

("mit dem letzten Tropfen Öl die letzte Ratte braten und dann stilvoll abtreten");

  1. mit „darüber“: die Mathematik ist wenn auch nicht alleine, so doch immerhin mitschuldig am potentiellen Weltuntergang.

Diese Mitschuld mag vielen Laien unverständlich sein:

"wie sollten ein paar ebenso abgenagte wie harmlose Gleichungen à la   die Welt zerstören können!?"

Aber selbst hartgesottene reine Mathematiker werden nicht mehr leugnen können, dass sie eventuell (auch ohne Absicht) zur Zerstörung der Welt beitragen.

So haben z.B. einige theoretische Physiker (z.B. Einstein) die Grundlagen der Atombombe entwickelt, als diese selbst noch gar nicht denkbar war. Für ihre Entdeckungen haben die theoretischen Physiker aber häufig mathematische Theorien benutzt, die bis dahin als absolut "rein" und damit ungefährlich galten.

Entsprechend hat Simon Singh mal gesagt, dass der Erste Weltkrieg ein Krieg der Chemiker (Giftgas) und der Zweite Weltkrieg ein Krieg der Physiker gewesen sei, der Dritte Weltkrieg aber ein Krieg der Mathematiker (und Informatiker) sein werde.

(Vgl. etwa   .)

Oder es gibt Vermutungen, dass Mathematiker ganz erheblich zum Finanzcrash 2008 beigetragen haben.

(Vgl. etwa .)

Typisch ist aber, dass da

auftraten

(vgl. auch das obige Einstein-Zitat).

Vielleicht verführt die Sicherheit der (reinen) Mathematik ja sogar dazu, auch ihre Übertragung auf die Außenwelt für gesichert zu halten.

Vgl. des weiteren den Missbrauch (mathematischer) Algorithmen bei der Wahl Trumps zum US-Präsidenten und beim Brexit durch die Firma Cambridge Analytica: .

Was das alles mit der Schulmathematik zu tun hat? Bzw. anders gefragt: weshalb denn wird die Mathematik nicht nur zum Haupt-, sondern sogar zum "Kernfach" hochgejubelt, das Schüler bis zum Abitur nicht abwählen dürfen? Das ist natürlich nicht so, damit sämtliche Schüler später Mathematik oder Naturwissenschaften/Technik studieren. Eine umfassendere Antwort hat David Kollosche in seinem Buch  gegeben:

„Der Autor legt dar, wie Mathematikunterricht als gesellschaftliches Phänomen mit unserer Kultur verbunden ist, [...] und zeigt, wie Heranwachsende zum Funktionieren in einer mathematisch gesteuerten Gesellschaft erzogen [abgerichtet?] werden.“
(Einbandtext)

Kollosche kritisiert in seinem Buch mit

(endlich mal wieder!:)

eine einseitige, potentiell brandgefährliche rein mathematische Rationalität.

Solche Überlegungen, also exemplarisch

  • zur Rolle der Mathematik
    • beim Bau der Atombombe
    • und bei der Finanzkrise 2008,
  • zu "wie Heranwachsende zum Funktionieren in einer mathematisch gesteuerten Gesellschaft erzogen werden"

kommen aber in der gängigen Schulmathematik niemals vor.

Stattdessen ergeht man sich in reiner Mathematik und an den Haaren herbeigezogenen "Anwendungs"-Aufgaben.


Nun unterscheidet sich aber

(und von früheren Entwicklungen auf zukünftige [bislang auch tatsächlich eingetretene] geschlossen).

Wie aber oben schon gesagt, ist mit der Unterstellung einer auch zukünftigen exponentiellen Entwicklung der Erdbevölkerung und der Computerrechenleistungen schon das Dementi dieser exponentiellen Entwicklungen verbunden: irgendwann muss es so oder so zu einer (nicht-exponentiellen) Abflachung der Entwicklungen, wenn nicht sogar zu ihrem Kollaps kommen.

Und in der Tat sieht es so aus, dass zumindest die Bevölkerungsentwicklung neuerdings nicht mehr exponentiell verläuft:


(Quelle: ;
dabei zeigen die rechts des Wendepunktes liegenden Linien die möglichen weiteren Verläufe
zwischen „worst case“ ganz oben und „best case“ ganz unten)

Dass die Bevölkerungsentwicklung derzeit einen Wendepunkt aufweist, ist

(wenn die Erdbevölkerung trotz Wendepunkt noch bis 2070 weiter [auf 9,5 Milliarden] ansteigt, könnte der Wendepunkt zu spät stattgefunden haben, weil bis 2070 die Folgen der enorm großen Erdbevölkerung [z.B. der Klimawandel] noch verschärft und evtl. irreversibel sein werden),

Wir sind also anscheinend Zeitzeugen des vielleicht wichtigsten Wendepunkts aller Zeiten:

„[...] und ihr [seid umschlungen, Milliarden] könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“
(Goethe)

All das müssen Schüler aber doch dringend erfahren!

(Von wegen „noch lange keine Entwarnung“ sei noch kurz aus dem Buch nachgetragen:

„Und dann ist da noch der tödliche Sachverhalt, dass die Länder, die sich ein Bevölkerungswachstum am wenigsten leisten können, Geburtenraten aufweisen, die wahnwitzig oberhalb des Ersatzniveaus liegen, während die reichen Länder Geburtenraten deutlich darunter aufweisen. Sämtliche der schlimmsten Konfliktherde der Welt sind genau wegen ihrer beispiellosen und kein akzeptables Leben ermöglichenden Überbevölkerung Krisenherde. In gerade mal siebzig Jahren hat sich die Bevölkerung in der arabischen Welt mehr als vervierfacht, von 104 Millionen auf 450 Millionen, und die Prognosen gehen von alarmierenden 700 Millionen Millionen Menschen im Jahr 2050 aus, weil der Anteil junger Frauen so hoch ist und ihre Geburtenzahlen weiterhin hoch bleiben. Die meisten Länder des subsaharischen Afrika weisen immer noch Geburtenraten von fünf bis sieben Kindern pro Frau auf, an der Spitze der Niger mit 7,6. Man nehme ein beliebiges Land der Welt, das unter einem Bürgerkrieg, massiven Wanderungsbewegungen, einer Hungersnot, einer Epidemie, hohen Sterbeziffern in Folge einer Naturkatastrophe oder von Dürre leidet, und man wird ausnahmslos erstaunlich hohe Fertilitätsraten feststellen. Beispiele für Geburtsraten: 6,8 in Somalia, 5,4 im Sudan, 5,5 in Afghanistan, 4,6 im Jemen, 6,2 in Burundi, 6,3 im Kongo, 6,5 in Mali, 4,2 in Gaza, 3,4 im Irak.“)


Dass die Entwicklung der Erdbevölkerung besorgniserregend ist, muss wohl nicht mal mehr begründet werden - und wird in Schulen wohl auch in den Fächern Erdkunde und Politik/Sozialwissenschaften durchgenommen

(dennoch werde ich die Bedeutsamkeit der Bevölkerungsentwicklung gleich nochmals begründen).

Hingegen vermute ich mal, dass Schülern die Bedeutsamkeit des Moorschen Gesetzes unbekannt ist - und dieses Gesetz nichtmal im Fach Informatik erwähnt wird

(zumal Informatikunterricht oftmals in reinem Programmieren besteht, eine [gar kritische] Technikfolgenabschätzung aber niemals stattfindet: die meisten Informatiklehrer - so behaupte ich einfach mal - sind ja Technik- und Fortschrittsfreaks und betrachten die leisesten kritischen Nachfragen gleich als Wehkraftzersetzung - oder tun sie mit Lippenbekenntnissen ab;

und die Sozialwissenschaftslehrer haben oftmals keinen blassen Schimmer von der Computerentwicklung).

Da ich überhaupt erst durch das Buch auf die Zusammenschau der "Malthusiansiche Katastrophe" und des "Mooreschen Gesetzes" im Hinblick auf den Mathematikunterricht gekommen bin, lasse ich diesem Buch den Vortritt bei der Begründung der "außenweltlichen" Bedeutsamkeit der beiden Themen:

vielleicht übertreibt Frances ein bisschen, wenn er die Überbevölkerung zur Ursache aller derzeit anstehenden Probleme macht:

"Bevölkerungskontrolle ist zum heißesten politischen Thema geworden. Obwohl die Überbevölkerung heute buchstäblich für jedes [!?] katastrophale Problem unserer Welt direkt verantwortlich ist, ist die Auseinandersetzung damit in den Medien, in politischen Diskursen und akademischen Präsentationen nahezu ein Tabu. Analysen der Ursachen des letzten Krieges, der Flüchtlingskrise, Hungersnot oder Pandemie konzentrieren sich fast ausschließlich auf politische, wirtschaftliche oder persönliche Auslöser – weisen aber nahezu nie auf die überzeugendste eigentliche Ursache hin, die Überbevölkerung."

Noch in anderer Hinsicht ist Malthus bedeutsam:

"Charles Darwin und Alfred Russel Wallace [der die Evolutionstheorie parallel zu Darwin aufgestellt hat] nennen beide die Lektüre von Malthus als Auslöser ihrer voneinander unabhängigen Entdeckungen, dass natürliche Auslese über den Wettbewerb unter Lebewesen zur Evolution führt."

Wallace ist inzwischen weitgehend vergessen, aber Darwin laut Frances bis heute von eminenter Bedeutung:

"In den meisten Bereichen menschlichen Strebens überragt keine einzelne Person alle anderen Koryphäen deutlich. Es wäre unmöglich zu sagen, wer der größte Philosoph oder Arzt oder Künstler oder Baseballspieler oder Filmstar war. In all diesen Disziplinen waren so viele perfekt, dass kein einzelner Mensch, wie großartig auch immer, hier am hellsten strahlt. Die Psychologie ist die Ausnahme. Charles Darwin beherrscht dieses Gebiet total. Nichts von dem, was davor gesagt wurde, besitzt heute noch große Relevanz, und nichts, was seitdem gesagt wurde, hat ihm außer Feinschliff, experimenteller Bestätigung und klinischer Anwendung sonderlich viel hinzugefügt."

Die enorme Bedeutung Darwins geht aber weit über Frances' Fachgebiet, also die Psychologie, hinaus. Mindestens ebenso bedeutsam ist Darwin für die moderne Biologie, ja, für das moderne menschliche Selbstbewusstsein

(wie brisant dieses Thema nach wie vor [vor allem in den USA] ist, zeigt z.B. ).

»Singularität« ist der Ausdruck, der benutzt wird, um den [durch Künstliche Intelligenz möglichen] evolutionären Wendepunkt [!] zu beschreiben, an dem Silizium-Intelligenz [der Computer] die Kohlenstoff-Intelligenz [des Menschen] überholt. Was dann passiert, weiß niemand. Die frühesten Pioniere der Computerintelligenz, Alan Turing und John von Neumann, sahen das bereits vor sechzig Jahren kommen. Sie begriffen, dass Computer uns früher oder später bei jedem geistigen Wettstreit, der auf schierer Rechenfähigkeit beruht, schlagen würden. Aber sie ahnten noch nichts von den Fortschritten in der Chip-Technologie, durch die diese Entwicklungen so rasend schnell möglich wurden. Computer haben uns zuerst bei Zahlen verarbeitenden Aufgaben Aufgaben übertroffen, die für die Entwicklung von Modellen für das Wetter, für wirtschaftliche Trends, Teilchenkollisionen, den Ursprung des Universums und die meisten anderen Dinge nötig sind, die von Wissenschaftlern erforscht werden. Computer haben nur ein klein bisschen länger gebraucht, um uns beim Schach, bei Jeopardy! und Go zu schlagen, um Gesichter und Gefühlsausdrücke zu erkennen, um Autos zu fahren, Flugzeuge und Raketen zu steuern, medizinische Diagnosen zu erstellen, Hedgefonds aufzulegen und bei zig anderen Dingen zu brillieren, die früher als jenseits ihrer Fähigkeiten angesehen wurden. Der ursprüngliche Turing-Test erwies sich für sie als relatives Kinderspiel – heute sind Computer in der Lage, Unterhaltungen in einer intelligenten, anspielungsreichen, idiomatischen Sprache zu führen, die vollkommen wie die eines Menschen aus Fleisch und Blut klingt. Alles, was von der Einzigartigkeit des Menschen Menschen geblieben zu sein scheint, ist unsere Fähigkeit, sich zu verlieben, Sex zu haben, Witze zu machen, Gedichte zu schreiben, Poker zu spielen, Emotionen zu empfinden, unabhängige Beweggründe zu haben, das Gefühl einer Ich-Identität zu erfahren, Bewusstsein schätzen zu wissen und dumme Fehler zu begehen."

Bis hier ist Frances' Darstellung noch annähernd wertfrei. Kritisch wird's hingegen im Folgenden:

"Schon sehr bald werden Computer die meisten Menschen arbeitslos machen. Und wenn der Zeitpunkt der »Singularität« kommt, ersetzen uns die Computer vielleicht komplett.

[...]

In der künstlichen Intelligenz-Gemeinde wimmelt es nur so von Enthusiasten, welche die Erwartungen immer höher schrauben

[z.B., dass Computer im Gegensatz zum notorisch irrationalen Menschen rational und deshalb auch für uns Menschen besser entscheiden werden; oder dass menschliches Bewusstsein irgendwann in Computer übertragen werden kann und die Menschen dadurch unsterblich werden],

ohne sich über die potenziell tödlichen Folgen Gedanken zu machen. Als moderne Dr. Frankensteins sind sie – bei üppiger finanzieller Unterstützung durch Staat, Konzerne und dilettantische Milliardäre – völlig fasziniert von der Macht, diese neue Silizium-Lebensform erschaffen zu können. Zu einem erheblichen Teil unterliegt ihre Arbeit keinerlei Beschränkungen, und es gibt so gut wie keine Diskussionen über ihre immanenten Gefahren. Bill Gates, Elon Musk und Stephen Hawking beunruhigt es gleichermaßen, dass unsere anscheinend so gutmütigen Computerschöpfungen eines Tages eine existenzielle Bedrohung für den zukünftigen Bestand der Menschheit werden könnten."

"Die mit der Entwicklung von künstlicher Intelligenz beschäftigten Computergenies haben die solipsistische Einstellung eines Dr. Frankenstein, dass man es tun sollte, wenn man es tun kann, und wenn man es nicht tut, dann wird es ohne Frage der Wettbewerber tun. In technischer Hinsicht sind ihre Anstrengungen brillant, aber völlig ungezügelt von ethischer Diskussion und ernstzunehmender Überwachung – der Fokus liegt ausschließlich auf den Mitteln, ohne jede Rücksicht auf den Zweck. Es mag sich aus meinem Alter und einer sentimentalen Verbundenheit zu allem Menschlichen erklären, aber für mich ist die Einstellung »Kohlenstoff gut, Silizium besser« vollkommen abschreckend."


Die "Maltusianische Katastrophe" und das "Mooresche Gesetz"


Es reicht natürlich nicht, im Mathematikunterricht die Bevölkerungsentwicklung und die Entwicklung der Computerrechenleistung mathematisch zu durchringen

(dann wären - s.o. - beide ja doch wieder nur Mittel zum mathematischen Zweck),

sondern man muss auch versuchen, halbwegs deren sonstigen (sozialen, technischen ...) Hintergründen gerecht zu werden.

Ich schlag mir auf die Schenkel:

Math goes interdisziplinär!


Die oben schon gezeigte Grafik

(in der Mitte wird der in der Grafik dargestellte mathematische Zusammenhang genannt:
"transistor count doubling every two years")

neben dem Wikipedia-Text über das Mooresche Gesetz sieht doch eben gerade nicht exponentiell, sondern konventionell linear aus!

Man ist es (insbesondere aus dem Schulunterricht) gewohnt, dass

und erkennt deshalb vielleicht nicht, dass Letzteres in der obigen Grafik auf der y-Achse nicht der Fall:

Da liegt z.B. 1.000.000

(von 10.000 aus gemessen)

Entsprechend liegt

Die Zahlen sind auf der y-Achse also

(was hier nicht genauer erklärt werden soll)

logarithmisch abgetragen, und zwar mit dem log2.

Folge ist allerdings, dass die tatsächliche Exponentialfunktion fälschlich linear aussieht.

Grund für die logarithmischen Einträge auf der y-Achse ist, dass die Zahlen dort viel zu groß werden, um sie noch auf die übliche "äquidistante" Weise in einem übersichtlichen Koordinatensystem abtragen zu können.

Die Grafik

könnte also ein schöner Einstieg in die Logarithmen-Lehre sein.


Wie bereits mehrfach erwähnt, bin ich erst jetzt durch das Buch darauf gekommen, dass sowohl die "Malthusianische Katastrophe" als auch das "Mooresche Gesetz" danach schreien, bei der Behandlung der Exponentialfunktionen mitbehandelt zu werden.

Das heißt aber auch, dass ich selbst während meiner gesamten Lehrerzeit weder die "Malthusianische Katastrophe" noch das "Mooresche Gesetz" im Unterricht zu den Exponentialfunktionen behandelt habe. Also gilt auch:

Schande über meinen Mathematikunterricht, in dem
und
nie vorkamen

Nunja, immerhin geahnt hab ich früher ja schon doch was:


PS:

 

PPS: im zufälligen nächsten Buch, das ich gelesen habe, nämlich , stand dann:

„Wahrscheinlich liegt es in der Natur des Menschen, sich vor dem Ungewissen zu fürchten und stattdessen die Vergangenheit zu romantisieren. De facto ging es bei allem »Früher war alles besser« immer bergauf. Wohlstand und Gesundheit sind in der Menschheitsgeschichte stetig gestiegen, doch wir ziehen daraus nicht den Schluss: »Morgen wird alles besser«. Dabei sollte uns die Statistik optimistisch stimmen: Wächst die Weltwirtschaft weiterhin wie in den letzten 50 Jahren, wird die Welt im Jahr 2050 fast fünfmal reicher sein als heute, 2100 werden wir unseren Wohlstand im Vergleich zu heute etwa vervierundreißigfacht haben. Aber genau diese exponentiell ansteigende Rasanz fordert uns einiges ab. Das Gefühl vieler Zeitgenossen, die Welt drehe sich für sie zu schnell, ist mehr als nur ein Gefühl, es ist ein Tatsachen-Erlebnis. Gemäß dem Moore’schen Gesetz, das der Intel-Mitbegründer Gordon Moore bereits 1965 formulierte, verdoppelt sich die Rechenleistung von Prozessoren alle 18-24 Monate.

Wenn sich die Rechenkapazität von Computern alle zwei Jahre verdoppelt, haben wir ein klassisches exponentielles Wachstum, das heißt, die Rechenleistung steigt nicht konstant, sondern mit der Zeit immer schneller.“