Mathe ist ein Arschloch!
und
die beleidigte Leberwurst

Die Aufgabe eines Mathelehrers besteht - grob gesagt - darin

  1. denjenigen "Futter" zu geben, die sowieso schon Spaß an Mathematik haben,
  2. diejenigen "abzuholen"

(soweit das überhaupt noch möglich ist),

denen die Mathematik bislang ein Buch mit sieben Siegeln ist oder die regelrecht eine Aversion gegen Mathematik haben.

(Zielgruppe sind dann potentiell ebenfalls diejenigen, denen das auch lange nach der Schulzeit so geht.)


Es ist noch lange keine Anbiederung an das unterste Niveau und die grassierende Bildungsverachtung, wenn man ab und zu Goethe & die Mathematik & (last but not least) sich selbst

(als Vermittler der wahren Lehre)

nicht ganz ernst nimmt.

Und das schon allein deshalb nicht, weil ich genügend nette und durchaus wissbegierige Menschen (u.a. SchülerInnen) kenne, die - aus welchen Gründen auch immer - ein "Missverhältnis" zu einem Teil der Kultur (also z.B. zu Goethe oder der Mathematik) haben, aber durchaus offen für andere "Töne" wären

(und, wenn man´s versucht, auch tatsächlich sind).

Hiermit sei sofort auch unterstellt, dass Begeisterung und Ironie sich nicht - wie viele meinen - ausschließen müssen, sondern einander sogar potenzieren können.


Fangen wir mit Goethe höchstselbst an

(und Goethe war nicht nur eine Person, sondern ist auch ein ganzes System aus altehrwürdigen Nachbetern

[darunter viele Deutschlehrer]

seiner Berühmtheit):

manchmal geht es mir ja im Unterricht gewaltig "auf den Zeiger", wenn - mit Verlaub - ausgerechnet das stumpfste Schülerpack Goethe ("so´n Scheiß") in den Dreck tritt, und dann ist mir durchaus danach

(normalerweise denke ich das nur; und doch: muss man es nicht manchmal auch laut sagen?),

solche SchülerInnen als Hohlköpfe zu entlarven und ihnen - das aus meinem Munde! - sogar ein bisschen mehr Nationalstolz anzuempfehlen

(„we are proud
of not being proud“
[Jan Böhmermann in „BE DEUTSCH!“])

Und doch: irgendwann in meinem Germanistik-Studium hat (auch) mich eine heftige Allergie gegen den

"Altmeister... Dichterheros... Neuschöpfer der deutschen Dichtung... Großer Dioskur von Weimar... Wiederbeleber der Antike..."
(Zitat aus „Goethe [im Examen]“ von Egon Friedell und Alfred Polgar)

befallen: er war für mich so unnahbar und gleichzeitig erschlagend geworden, dass für einige Zeit nur noch Respektlosigkeit und eine rigorose Goethe-Enthaltsamkeit halfen - dann allerdings (oder gerade deshalb) glücklicherweise gefolgt von einer verschärften (auch kritischen) Auseinandersetzung mit ihm und dem, was seine (meist schnarchlangweiligen) Adepten aus ihm gemacht haben

(es ist mir - zumindest für einige Zeit - nicht nur bei Goethe, sondern z.B. auch bei Derrida so gegangen, dass ich einen leichteren Zugang bekam, wenn ich unvermittelt ihre eigenen Texte statt solche "über" sie las; geholfen haben mir allerdings auch kritische [ungleich respektlose] Biografien - und dass jemand es mal laut zu sagen wagte: Goethe hat neben vielen Meisterwerken auch unerträgliche Banalitäten abgesondert, nämlich z.B. ).

Ich habe dann im Studium allerdings aus der Not eine Tugend gemacht, mich nämlich

(nach einer einjährigen Goethe-Diät)

 gefragt, warum Goethe eigentlich so berühmt ist, ob er es eigentlich mit Recht ist - und dazu mit gehörig kritischem Blick

(mal angewidert, mal staunend und bewundernd)

massenhaft von ihm und über ihn gelesen

(so dass mir z.B. bis heute Faust nur ein unerträglicher Klugscheißer und Schlappschwanz ist - und Mephistopheles die einzig interessante Figur im somit zu Unrecht mit „Faust“ betitelten Drama;

und wenn die Figur Faust angeblich das „Faustische“ im deutschen Manne repräsentiert, so ist das für mich nur noch blanke Ironie).

Heute passt es für mich bestens zusammen (macht es Goethe überhaupt erst aus), dass Goethe

  1. persönlich

  1. "fachlich"

Ein weitgehend unbekanntes Beispiel ist sein "Farbenlehre", also nicht nur seiner eigenen Meinung nach vielleicht sogar sein wichtigstes Werk: sie ist


Der Spruch "Mathe ist ein Arschloch!" stammt von einer Postkarte der

(was ja schon ein sympathisch humorvoller Name ist).

Es gibt im Internet auch andere bildliche Umsetzungen des Spruchs „Mathe ist ein Arschloch“

(u.a. ),

aber die, die ich hier meine, halte ich doch für die gelungenste: auf der Postkarte wird zusätzlich zum Spruch auch noch ein nettes, in sich versunkenes oder doch eher entgeistert blickendes Mädchen (wohl eine Schülerin) gezeigt.

Nun traue ich mich wegen des Copyrights nicht, das Bild hier mitzuliefern, aber man kann es sich ja unter  ansehen

(und als Mathelehrer in Klassensatzstärke bestellen und dann an die Schüler verteilen, so dass die Schüler mit ihrer Mathe-Kritik nurmehr offene Türen einrennen).

Dabei ist der Gag der Postkarte doch ein doppelter, und die erste Hälfte kommt eben nur in der Kombination des Spruchs mit dem Bild hervor:

  1. dass da so ein (äußerlich) braves Mädchen sich solch einer deftigen Sprache bedient (nicht anders kann?);
  2. dass da "Mathe" personifiziert ist  - und gerade die Mathematik dafür der ebenso unmöglichste wie gleichzeitig doch passendste Kandidat ist.

Der deftige Ausdruck "Arschloch"

(Goethe [!] im "Götz von Berlichingen": "[...] er kann mich [igitt!:] im Arsch lecken!")

ist also für den doppelten Gag bislang eher unerheblich, es hätte beispielsweise fast auch "Schwachkopf" gereicht.


Warum aber - so ja meine zweite These - ist "gerade die Mathematik [für eine Personifizierung] der ebenso unmöglichste wie gleichzeitig doch passendste Kandidat"?

Vielleicht kann man das gut rausfinden, wenn man probeweise mal ein anderes Schulfach einsetzt, also beispielsweise

"Deutsch ist ein Arschloch!"

Mir scheint, der Spruch ist in dieser Form undenkbar und würde nie so benutzt werden. Warum?

Viel zu voreilig scheint mir die Antwort, Mathe sei nun mal das mit Abstand unbeliebteste Fach, und deshalb gebühre eben nur ihr die Bezeichnung "Arschloch". Es scheint zumindest Umfragen zu geben, die dieses Vorurteil widerlegen: Mathe ist bei vielen SchülerInneN durchaus beliebt - und sei´s allein wegen ihrer (vermeintlichen) Verlässlichkeit

(etwas ist [angeblich] ganz wahr oder ganz falsch, vor allem aber: bei der Mathematik weiß man sehr genau, was in einer Klassenarbeit "dran" kommt; woraus ich allerdings ein bisschen raushöre: man kann - etwa den Zensuren zuliebe - die Verlässlichkeit eines unbeliebten Fachs der Nicht-Verlässlichkeit eines eigentlich beliebteren Fachs vorziehen).

Eher schon scheint mir, dass Mathematik wie kaum ein anderes Fach (also z.B. Deutsch) die Geister scheidet:

mit meiner Fächerkombination Deutsch/Mathematik erlebe ich es sehr häufig, dass Leute (nicht nur SchülerInnen) dazu neigen, spontan Sympathie für eines meiner beiden Fächer zu äußern und das andere rabiat abzulehnen:

Mathe ist vielleicht "nur" der extremste Pol der schon von C.P. Snow in beklagten Trennung in Mathe/Naturwissenschaft einerseits und Geisteswissenschaft andererseits

(wobei ich allerdings die Mathe ja eher zur Geistes- als zur Naturwissenschaft rechnen würde).

Die Scheidung der Geister bestünde dann etwa darin, dass

Geht es bei der Ablehnung der Mathematik vielleicht gar nicht in erster Linie um Nicht-Mathe-Können, sondern viel eher um Nicht-Mathe-Wollen, also die

(verständliche und gleichzeitig doch bedauerliche)

Verweigerung eines speziellen Zugangs zur "Welt"?


Die eigentliche Erklärung, warum wohl "Mathematik ist ein Arschloch!", nicht aber "Deutsch ist ein Arschloch!" funktioniert, scheint mir aber ganz woanders zu liegen

(wenn sie eben auch schon angedeutet wurde):

"Deutsch" (wenn ich darunter hier mal Literaturkunde verstehe) ist in doppeltem Sinne menschengemacht:

(nebenbei: "Goethe ist ein Arschloch!" wäre wohl unpassend, es sei denn, man fände in seiner Biographie Indizien, dass er sich gegenüber Zeitgenossen mies verhalten hätte);

Mathematik hingegen erscheint als "un-menschlich" im Sinne von "nicht von Menschen gemacht"

(oder so zumindest wird sie meistens in Schulen vermittelt):

beispielsweise hat Pythagoras den "Satz des Pythagoras" nur entdeckt, aber nicht erfunden, d.h. der "Satz des Pythagoras" galt schon in aller Ewigkeit vor ihm

(als es noch gar keine Menschen gab)

 und wird auch noch in alle Ewigkeit gelten

(wenn es längst keine Menschen mehr geben wird?).

Das einzige (und wahrhaft nicht gering zu schätzende) Verdienst des Pythagoras (wenn es ihn denn überhaupt) lag darin, diesen Satz das erste Mal (und dann für alle Ewigkeit) bewiesen zu haben.

Oftmals wird, was ich hier meine, auch anders formuliert: wenn Pythagoras "seinen" Satz nicht bewiesen hätte, hätte es früher oder später ein anderer getan; ohne Shakespeare (oder Goethe) wären aber dessen konkrete Texte in alle Ewigkeit nicht zustande gekommen.


Kleines Intermezzo: einE SchülerIn käme wohl kaum jemals auf die Idee, "Gauß ist ein Arschloch!" zu sagen, und das nicht nur,

sondern vor allem, weil - wenn überhaupt - für SchülerInnen das Gesamtsystem Mathematik ein "Arschloch" ist (und Gauß nur ein Helfershelfer).


Nebenbei: vielleicht sind deshalb auch Mathelehrer nicht so sehr im Zentrum des "Schussfeldes": sie können ja nichts dafür, was sie da vermitteln, sondern das fällt fertig vom Himmel und ihnen bleibt gar nichts anderes, als es mit-nachzuvollziehen.

(Mathelehrer sind schlechte Lehrer höchstens in dem Sinne, dass sie die göttlichen Weisheiten schlecht vermitteln können; vgl. den Standardvorwurf und somit die indirekte Standardforderung: "der kann schlecht erklären"; ein Vorwurf bzw. eine Anforderung, die bei einem Deutschlehrer undenkbar wäre.)

... was ja nicht ausschließt, dass nach Mathearbeiten (meiner Erfahrung nach viel mehr als nach Deutscharbeiten) das große Punkte-Gefeilsche losgeht: eben weil die Wahrheit in Mathematik angeblich "messbar" ist - und im Fach Deutsch angeblich sowieso nicht.


Mathematik ist also der Inbegriff von "unpersönlich" und somit (s.o.) eigentlich der unmöglichste Kandidat für eine Personifizierung

(wobei man langsam genauer werden müsste: "Arschloch" ist ja nicht selbst ein Mensch, sondern höchstens ein pars pro toto bzw. die völlige Reduzierung eines Menschen auf einen "Teil" oder - als Loch - sogar eher einen Nicht-Teil).

Vielleicht besteht der Gag des Spruchs "Mathe ist ein Arschloch!" ja eben gerade in dieser Unmöglichkeit und also auch Unerwartetheit.


Und doch (bzw. gerade deswegen) ist - wie schon mehrfach behauptet - Mathematik gleichzeitig auch der passendste Kandidat für eine Personifizierung:

"Mathe ist ein Arschloch!" und gerade die Personifizierung darin ist der ohnmächtig-aussichtslose Aufstand gegen das Unveränderbare, nämlich sozusagen der Aufstand gegen Gott persönlich:

"Du [= Gott] aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet."
(Altes Testament, Buch der Weisheit 11/21)

"Gott schlägt immer den mathematischen Weg ein."
(Johannes Kepler)

"Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben."
(Galileo Galilei)

"Indem Gott rechnet, entsteht die Welt."
(Gottfried Wilhelm Leibniz)

Und der Gag (sowie der Befreiungsschlag, wenn nicht gar die geheime Rache) liegt gerade darin, dass man sie/ihn mittels Personifizierung auf Menschenmaß zurechtstutzt, ja sogar noch unter Niveau bringt:

(Ist es ein Zufall, dass ich im Internet als einzige ähnliche "Arschloch-Konstruktion" eben dies gefunden habe?

Und nebenbei: ich bin mir gar nicht sicher, was eigentlich mickriger ist: das Bild eines Gott-Mathematikers oder der Aufstand dagegen.

Der Gag von "Mathe ist ein Arschloch!" besteht also auch darin, dass es geradezu eine Blasphemie ist.

Diese Blasphemie ist ja nicht meine Meinung - und doch erinnert sie an Hiob.

"Du sollst dir kein Bild machen von den Dingen, die im Himmel [...] sind."

Und überhaupt ist es schon geradezu lustig, zu was der arme liebe Gott alles herhalten muss:

ist da Gott ein Versatzstück geworden, weil eh keiner mehr an ihn glaubt, oder höre ich auch da mit Recht noch - zumindest teilweise - den eben genannten ohnmächtigen  (und doch erleichternden) Aufstand gegen das Unveränderliche heraus?


Was aber bedeutet "Arschloch"? Doch wohl nicht - wie oben noch nahegelegt - Schwachkopf oder - wie der Duden definiert - Dummkopf, sondern dass jemand einen absichtlich gemein reinlegt.

(Ein "Arschloch" kann also durchaus höchst raffiniert sein - wie ein Gott.)


Wie aber kann man (als Mathelehrer) dem Spruch "Mathe ist ein Arschloch!" entgegenwirken?:

  1. , indem man sich ab und zu solcher (Selbst-)Ironie mal anschließt, also sein Fach nicht allzu ernst nimmt und hier und da mal zeigt, wie lachhaft doch zumindest so einige Ausläufer der Mathematik sind. Vgl. etwa .

(Mehr noch: ist nicht sogar die gesamte Mathematik bzw. jegliche [eben auch mathematische] Tätigkeit manchmal urkomisch?!: Mathematik ist ein einziger Witz - und genauso überflüssig und dringend notwendig wie eben Witze.)

Warum also nicht beispielsweise mit den SchülerInneN zusammen vor einer (beängstigenden) Mathearbeit laut schreien: "Mathe ist ein Arschloch! - und jetzt legen wir los"?

(Ich nenne sowas "prophylaktisches Lästern"

[das überhaupt zur seelischen Hygiene sehr zu empfehlen ist!]:

wer vorher frisch-fromm-fröhlich-frei und herzhaft respektlos ablästert, wird hinterher alles nicht ganz so ernst nehmen, also nicht so leicht verzweifeln.)

Oder es wäre auch Ironie, unvermeidliche (!) Stumpf-, also z.B. Übungsphasen deutlich eben "stumpf" zu nennen, stattvon den SchülerInneN Dauerbegeisterung  zu erwarten bzw. ihnen diese vorzuspielen.

  1. immerhin ab und zu interessanterer (auch abgelegenerer) Stoff, also z.B.

oder (zumindest ab und zu) auch eine interessantere Vermittlung des gängigen Stoffs, also z.B.

(wobei ich mit "interessanter" keineswegs automatisch Anwendungen meine - und "interessant" sowieso relativ ist);

  1. , indem (arg allgemein gesagt) die SchülerInnen vermehrt zu Akteuren der Mathematik werden, statt immer nur ihre Nachvollzieher zu sein: dass sie sich also nicht mehr - eben von einem "Arschloch" -nur gemein reingelegt fühlen müssen, sondern Spaß an den Raffinessen der Mathematik finden und diese auch selbst(herrlich) einsetzen;

  2. indem man zwar nicht die "göttliche Gegebenheit" etwa des "Satzes des Pythagoras" anzweifelt, aber doch sehr viel öfter die Entdeckungs- bzw. Erfindungsgeschichte der Mathematik in den Unterricht einbringt, ihr also ein menschliches Gesicht gibt (vgl. ).