oder die Mathematik ist mit schuld

"Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch."
(Blaise Pascal)

“[...] überlassen wir die Physiker, die Mathematiker und die Philosophen sich selber,
treiben wir sie endgültig in die Ghettos ihrer Fachgebiete zurück,
wo sie hilflos und unbemerkt den Raubzügen der Techniker und der Ideologien ausgeliefert sind;
Raubzüge, die immer stattfanden und immer wieder stattfinden.“
(Friedrich Dürrenmatt)

"Die" Mathematik kann, solange sie "reine" Mathematik bleibt, überhaupt nicht schuldig werden, da sie wertfrei ist. Sondern sie kann nur schuldig werden, wenn sie "angewandt" wird, wenn also die Unwägbarkeiten des Außermathematischen hinzu kommen:

"Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
(Albert Einstein)


Aus dem Buch von Wolfgang Münchau:

"[...] Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kreditnehmer den Kredit nicht zurückbezahlt? Dazu hat die moderne Finanzmathematik bahnbrechende Ergebnisse bereitgestellt, die den Banken zunächst die Illusion gaben, dass sie Kreditrisiken genau berechnen konnten.
In diesem Prozess spielten die Ratingagenturen eine wichtige Rolle. Sie waren es, die mithilfe der mathematischen Modelle, diesen Wertpapieren ihren Gütesiegel aufstempelten. Nicht nur das: Das Gütesiegel war der entscheidende Faktor für die Preisbildung. Eine Ratingagentur ist im Finanzmarkt ähnlich wie die Stiftung Warentest im Produktmarkt. Ein Gütesiegel der Ratingagentur bedeutet, dass der Markt ein Wertpapier als besonders sicher ansieht. Dabei war der Einfluss der Ratingagentur um ein Vielfaches höher als der Einfluss eines Produkttests, denn die Bewertung bestimmt effektiv den Preis des Wertpapiers. Dieser ergibt sich direkt aus dem der Bewertung zugrunde liegenden mathematischen Modell. Hier wurde also der Preis nicht direkt durch Angebot und Nachfrage bestimmt wie an einer Börse, sondern durch die Mathematik. Daher spielen diese Modelle eine wichtige Rolle in unserem Drama. [...]"
(S. 12)

Später, in einem eigenen Kapitel über "Die unrühmliche Rolle der Mathematik", erklärt Münchau genauer:

"[...] Der Grund, warum diese Modelle zum Teil schlecht funktionieren, ist nicht, dass hier ein logischer mathematischer Fehler vorliegt oder gar ein Rechenfehler. Die Modelle sind in sich kohärent, zum Teil genial. Das Problem besteht in den grundlegenden Annahmen, den Axiomen. Um ein brauchbares Modell für den Finanzmarkt zu entwickeln, müssen Mathematiker eine ganze Reihe von [ökonomischen und psychologischen, also außermathematischen] Annahmen treffen. Sie müssen zum Beispiel einen gewissen Grad an Rationalität voraussetzen, die, wie wir alle wissen, zwar manchmal, aber nicht immer gegeben ist.  [...]"
(S. 147)

Zudem ist es fraglich, ob die Ratingagenturen überhaupt (hauptsächlich) mathematisch vorgegangen sind:

"[...] Unklar bleibt nur, wie die Bewertungen der Kreditwürdigkeit [durch die Ratingagenturen] zustande kommt. Die Sprecher der Agenturen verweisen hier auf »mathematische Formeln« und unabhängige Kriterien, die angelegt würden. Den Vorwurf, Agenturen würden im Sinne ihrer Auftraggeber bewerten, weist ein Moody's-Mitarbeiter von sich. Der Ruf der Agentur hänge von der Zuverlässigkeit der Bewertungen ab, jedes Abweichen von strengen Kriterien sei nicht im Sinne der Sache. [...]
Für Außenstehende bleibt unklar, wo Mathematik aufhört und wo Meinung anfängt. Experten zufolge haben die Agenturen einen Spielraum für ihre Bewertung. Wie groß der ist, bleibt das Geheimnis der Rating-Agenturen."
(zitiert nach   ).


Vgl. auch in Spektrum der Wissenschaft, 12/09.