Mathematik als Kulturwissenschaft

Mathematik: [...]  wurde im 15. Jh. aus [...]. lat. (ars) mathematica entlehnt, das seinerseits aus griech. mathematike (téchne) übernommen ist. Das zugrundeliegende Adjektiv griech. mathematikós "lernbegierig; wissenschaftlich; mathematisch" ist von griech. máthema "das Gelernte, die Kenntnis" abgeleitet [...]. Stammwort ist griech. manthánein (Aorist: mathein) "[kennen]lernen, erfahren" [...]
(Duden)

vgl. auch griech. polymate = in allen Künsten und Wissenschaften bewandert

Mathematik ist demnach nicht die Königin, sondern Sammelbegriff aller Wissenschaften und Künste.


Dass der Begriff "Kulturwissenschaft" inzwischen zum "Nullwort" verkommen ist, weiß ich auch

(vgl. den Essay "´Kulturwissenschaft´ - beliebter Titel für beliebige Inhalte?" von Richard David Precht in der "Zeit"):

Dennoch finde ich die derzeit gängige Erweiterung des Begriffs "Kultur" allemal interessant - und wichtig!: dass (ohne den Schwachsinn à la RTL zu verharmlosen) Kultur nicht nur "bildungsbürgerlich" à la Schwanitz auf "Geisteswissenschaften" und "Kunst" verengt wird und zudem die Trennung in zwei (C.P. Snow) bzw. gar drei (Leppenies) Kulturbereiche überwunden wird (ohne alle billig-ganzheitliche "Versöhnung der Gegensätze").

Es ist eben auch Kultur, was in einem Kegelverein und in der Mathematik los ist. Newton ist allemal so wichtig wie Napoleon! Und die Erfindung der Scheckkarte ist vielleicht - auf andere Weise - genauso wichtig wie der 2. Weltkrieg!


Wenn man sich das übliche (vor allem in Schulen vermittelte) Bild von Mathematik anschaut, ist es geradezu erstaunlich, dass sie überhaupt mal im Zusammenhang mit Kultur erwähnt wird.

Aber genauso nichtssagend oder einseitig wie viele Nennungen der "Kulturwissenschaft" (s.o.) sind oftmals auch

(wegen der gebotenen Kürze der Texte?)

äußerungen über den kulturellen Aspekt von Mathematik. Nur drei zufällige Beispiele aus meiner Lektüre der letzten Zeit:

Bemerkenswert dabei ist, dass in den ersten beiden Äußerungen das "Kulturelle" an der Mathematik immer noch (auch wichtig!) rein innermathematisch gesehen wird, während in den letzten beiden Äußerungen die Mathematik als "Teil" der Kulturgeschichte aufgefasst wird.

Damit deuten sich zwei Aspekte an:

  1. die innermathematische Kultur,

  2. die Einordnung des "Teils" Mathematik in die Gesamtkulturgeschichte, und zwar

  1. , wie die Mathematik über ihren eigenen "Tellerrand" hinaus ausstrahlt,

  2. aber auch, wie sie von außen beeinflusst wird

(was etwas für viele Mathematiker geradezu Ungeheuerliches impliziert, nämlich dass die Mathematik von der sonstigen "Kultur" abhängig ist),

  1. also, wie Mathematik mit der sonstigen Kultur wechselwirkt:

"Es gibt eine Geistesgeschichte der Mathematik, die sich von der reinen Historie dieser Wissenschaft, die Probleme und Lösungen, Männer und Werke zum Gegenstand hat und die fortlaufende Entwicklung der Axiome und Theorien behandelt, wohl unterscheidet. Ihr Anliegen ist die Wirksamkeit des mathematischen Geistes innerhalb des menschlichen Gesamtgeistes, eine kritische und reflektierende Spiegelung der mathematischen Wissenschaften an der menschlichen Gesellschaft und ihrer Kultur."
(Max Bense, der z.B. auch eine Korrelation zwischen mathematischem und künstlerischem Zeitgeist vermutet hat)


  1. innermathematische Geschichte

In der weitgehend üblichen (Schul-)Mathematik folgen eine Definition, ein Satz und ein Beweis auf den/die andereN, und das war´s dann auch schon.

D.h., da wird vorausgesetzt, daß jemand schon "echter" (bzw. kastrierter) Mathematiker ist, also nur noch in der reinen Theorie seinen Spaß findet: Hauptsache, mathematischer, d.h. mathematikinterner Fortschritt.

Um nicht mißverstanden zu werden: nichts gegen rein innermathematisches Vorgehen, das ich an anderer Stelle gewürdigt habe. Innermathematisches Vorgehen ist auch unumgänglich, um ohne Ablenkung die Rechentechniken zu pauken. Und ich bin unbedingt dafür, daß Mathematik immer mal wieder auch als reine Ästhetik betrieben wird, nur um ihrer selbst willen, als l´art pour l´art.

Aber dahin muß "man" ja erstmal kommen!

Wie denn nun genau Mathematik entstanden ist, ist oftmals verloren gegangen. Das ja eben ist das ebenso Phantastische wie Schreckliche an der Mathematik: daß sie keine Geschichte kennt: entweder ist etwas – sieht man mal von noch unbewiesenen Vermutungen ab - endgültig richtig, d.h. für alle Zeiten und in alle Ewigkeit bewiesen, oder eben nicht! Genau dieses Beweis- oder Widerlegbarkeit für alle Ewigkeit (sieht man mal von Goedels fundamentalem Widerspruchsbeweis "gegen alle Mathematik" ab) hat ja die Mathematik ausnahmslos allen anderen Wissenschaften voraus und verleiht ihr die immense Würde.

Es ist also in der Mathematik naheliegend, ihre Geschichte zu vergessen: wenn etwas "sowieso" und für alle Ewigkeit gilt, dann ist es völlig uninteressant, wie es entdeckt wurde und wer es entdeckt hat. Die Mathematik ist der neue, innerweltliche Gott "von Ewigkeit zu Ewigkeit".

Und das ist doch gleichzeitig das für viele Laien grenzenlos Erschreckende: diese grauenhafte Rechthaberei der Mathematik, dieses Ewig-Endgültige!

So ist es nunmal, und dennoch: so geht es nicht weiter!: im Endeffekt wird dann nämlich verkannt und eiskalt herabwürdigt, daß es ein konkreter Mensch, ganze Generationen und eine Menge schrecklicher (letztlich entweder übel erfolgloser oder aber eben von ungeahntem Erfolg gekrönter) Bemühungen waren, die überhaupt zum (eben auch mathematischen!) Erkenntnisfortschritt geführt haben.

Es muß wieder klar werden: der Einblick in die Ewigkeit gelang nur durch die Mühe konkreter Menschen. Das ist genauso wie mit der Astronomie: wenn man nur ihre Endergebnisse vorstellt (und tunlichst verschweigt, daß alles nur [erstaunlich gute!] Theorien sind), erschlägt sie die Menschen, versetzt sie sie als nichtiges Staubkorn ans Ende eines riesig großen, eiskalten Weltalls. Nietzsche hat bitter gespürt, wie vernichtend das ist und daß aus solcher Sicht direkt der Nihilismus folgt. Wenn man aber den Erkenntnisweg und die Erkenntnismühen mit formuliert, bleibt es doch über alle Maßen erstaunlich, daß es eben "der" Mensch (und nach allem, was wir bisher wissen, er als einziger im Weltall) war, der da Einblick ins Weltall nehmen durfte und konnte. Man muß eben immer wieder darauf hinweisen, wie maßlos erstaunlich es ist, daß "der" Mensch, obwohl doch festgebunden auf der Erde, Theorien über die räumlich (Quasare) und zeitlich (Urknall) entferntesten Dinge aufstellen konnte. Ich bin da alter Kopernikaner: Kopernikus hat immer wieder (auch wohl als Verteidigung gegen kirchliche Anwürfe) darauf hingewiesen, er entferne den Menschen nicht aus der Mitte der Welt, sondern stelle ihn nur auf andere Art wieder genau in diese Mitte.

Das ist kein blinder Anthropozentrismus, weil es eher eine (göttliche?) Gnade als ein Verdienst ist, keine Sonderrechte eröffnet und zudem andere Möglichkeiten (andere intelligente Wesen im All) offen läßt.

Eine häufig anzutreffende Art, sich gegen "übergroße" Genies zu wehren, ist die Rache der sekundären Geister, die heilfroh sind, wenn sie den Genies etwas ans Zeug flicken können. Um z.B. von Mozarts Genie nicht völlig erschlagen zu werden, würdigen sie ihn dann im Film "Amadeus" zu einer geilen Mickey Maus herab (was ja immerhin ein verständlicher Versuch ist, Mozart wieder "menschlich" zu machen). Mir ist da schon Weischedels "Philosophische Hintertreppe" lieber, in der er sich den philosophischen Größen zwar durch Küche und Schlafzimmer nähert, um das Hervorgehen ihrer Gedanken aus "ganz Normalem" zu zeigen, aber nie respektlos wird.

(Solch eine "Philosophische Hintertreppe" müßte auch mal über Mathematiker geschrieben werden: wie oftmals das Alltagsleben den entscheidenden Hinweis für mathematische Entdeckungen gab.)

Dennoch geht es mir – bei allem nötigen Respekt und manchmal maßlosem Staunen – doch auch ein wenig um die Demontage der Genies (und überhaupt Fachwissenschaftler). Unseren Zeitgenossen (und SchülerInneN) ist das Gefühl zu vermitteln: "unter entsprechenden Voraussetzungen hätte ich das vielleicht auch gekonnt". Das aber kann man eben nur zeigen, wenn man vermittelt, wie die Genies Kinder ihrer Zeit (und ihrer Vorfahren, auf die sie aufbauen konnten) waren.

Genauso wichtig scheint mir zu zeigen, daß die Genies soviel schlauer gar nicht waren, sondern sich oftmals nur an die "dummen" Kinderfragen gesetzt haben, die für die ach so realistisch "Erwachsenen" und Angepaßten schon längst beantwortet schienen. Genau das muß der Laie merken: gerade seine "dummen" Fragen bringen erstaunlicherweise weiter: "rationale Zahlen sind selbstverständlich; alles andere wäre ja auch irrational, ja, andere Zahlen gibt es gar nicht bzw. sind gar nicht vorstellbar"; und dann bosselt man solange mit einer scheinbar rationalen Zahl rum, bis man irgendwann in einen Widerspruch gerät und erkennen muß: "sie kann eben doch nicht rational gewesen sein".

Die einzige Alternative zu den "dummen" Fragen ist es, vorsorglich das Maul zu halten (über das einem sonst gefahren wird) und damit alle Erkenntnis von vornherein unmöglich zu machen.

Wenn man die Geschichte nicht kennt, heißt es allzu leicht: "mein Gott, wie doof waren die damals eigentlich, daß die das noch nicht erkannt haben". Was man (d.h. die simplen Mathematiker) dabei allzu leicht vergißt: daß damals die Zeit noch gar nicht reif für Erkenntnisfortschritte war, sondern daß alles "eins nach dem anderen" aufeinander aufbaute. Ja, sogar, daß überhaupt kein Interesse an Erkenntnis"fortschritt" (?) vorlag: daß beispielsweise die Gleichung "s (Strecke) = 0,5g (Erdbeschleunigung) · t (Teit) 2" anscheinend perfekt den freien Fall beschreibt, hätte einen mittelalterlichen Menschen nicht bloß gelangweilt, sondern wäre ihm geradezu häretisch ( = gotteslästerlich) vorgekommen: Gott simpel mathematisch auf die Sprünge zu kommen, wäre für ihn doch das Allerletzte gewesen. Hatte der mittelalterliche Mensch damit so eindeutig unrecht, hat uns denn die Mathematik der "tieferen" Wirklichkeit näher gebracht?

In dem Satz "mein Gott, wie doof waren die damals eigentlich, daß die das noch nicht erkannt haben" zeigt sich also nur grenzenlose historische Arroganz: als wenn wir heute so eindeutig besser wären! Und wenn wir´s wären, wären wir´s gerade wegen der immensen Leistungen unserer Vorfahren.

Und letztlich zeugt der Satz auch nur von Un- bzw. Halbwissen. Man stelle sich vor, wir würden mit all unseren schlauen Ideen ins Mittelalter versetzt und dann aufgefordert, sie mal umzusetzen. Schon beim Versuch, eine Glühbirne zu bauen oder die Irrationalität einer Zahl zu beweisen, sähen die meisten von uns doch ausgesprochen dumm aus – und würden als Spinner gelten.


  1. Mathematik in ihrem historisch-kulturellen Umfeld

 

"Die Accademia dei Lincei wünscht sich als Mitglieder Philosophen, die nach wahrer Erkenntnis streben und sich dem Studium der Natur, insbesondere der Mathematik hingeben; daneben jedoch sind auch die Ornamente der eleganten Literatur und der Philologie nicht zu vernachlässigen, die wie ein schmückendes Gewand den Leib der Wissenschaft zieren [...]"
(Gründungsprogramm der "Accademia dei Lincei", der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt; berühmtestes Mitglied: Galileo Galilei, der sich sowieso immer gleichzeitig "Mathematiker" und "Philosoph" nannte)

Daß Mathematik  immer mal wieder als Teil und Ausläufer der Geschichte und Kultur zu verstehen ist, macht die Fachrichtung "Ethnomathematik" klar, die zeigt, wie sehr mathematische Vorstellungen bzw. Entdeckungen mit den kulturellen Rahmenbedingungen eines Volkes (bzw. Kulturgemeinschaft; z.B. der westlich-europäischen) zusammen hängen. Was denn so "mathematisch richtig bzw. falsch" sei, ist eben so eindeutig gar nicht klar. Etwa so, wie verschiedene Kulturen auch Zeit ganz anders verstehen: die eine zyklisch, die andere linear.

Ich halte es für keinen Zufall, daß (ohne alle nationalistischen Untertöne) Deutschland etwa zwischen Goethe und den Nazis in so vielerlei Beziehungen "Zentrum der Welt" war: mathematisch, physikalisch, chemisch, technisch, aber auch musikalisch. Weshalb da aber "alles gleichzeitig" kam, ist mir nach wie vor unklar. Aber ich wette: wie bei Schriftstellern und Philosophen so üblich, hat Goethe auf verschlungenen Pfaden indirekt an der Relativitätstheorie mitgearbeitet (Einstein hat viel und oft Goethe gelesen).

Damit werden natürlich keine eindeutigen Kausalitäten behauptet – die zudem langweilige wären und die bunte Kultur zum Holzschnitt verflachen würden. Es geht wohl mehr um nur ansatzweise zu erfassenden "Zeitgeist" oder eine "Zeit-Befindlichkeit". Etwa um 1900 hat es halt in der geistigen Avantgarde allüberall im Gebälk gekracht, was zu viel Angst, aber auch zu viel neuer Kreativität geführt hat.

Überhaupt schöpfen die verschiedenen Richtungen wohl "nur" aus einem gemeinsamen "Befindlichkeits"-Pool: vermutlich haben sich Einstein und Picasso nie gegenseitig beeinflußt, aber doch dachten bzw. malten beide "relativistisch".

Oder vgl. auch .

Eine direkte Beeinflussung wäre auch gar nicht wünschenswert: ein Schriftsteller mag zwar die Quantentheorie halbwegs verstanden haben, aber jeder Versuch, sie 1:1 in einen Roman umzusetzen, würde doch wohl zu einer puren Kopfgeburt führen.

Mathematik findet also im kulturellen Raum statt und ist ohne ihn gar nicht denkbar. Erst die umgebende Kultur ermöglicht mathematische Fortschritte und Entdeckungen (platt gesagt: erst die Entdeckung Amerikas hat den Limes denkbar gemacht).


Kleiner Exkurs:

Manchmal könnte die Mathematik da ein bißchen mehr Demut vertragen – indem sie eben wieder in ihre eigene Geschichte wie überhaupt Geistesgeschichte blicken würde.

Noch in anderer Hinsicht gebührt der Mathematik Demut:


Alle umgebende Kultur wirkt auf die Mathematik und "färbt" sie. Umgekehrt wirkt die Mathematik aber natürlich auch auf die sonstige Kultur zurück. Daß nämlich ein Großteil der Wissenschaften und Technik ohne Mathematik gar nicht existieren würde, bedarf wohl keines Beweises mehr (womit gleichzeitig sowohl die immensen Wohltaten [die wohl keiner mehr ernsthaft missen möchte] als auch die Gefahren der Mathematik angedeutet sind).

Eine Kulturgeschichtsschreibung (wie oft üblich) ganz ohne Mathematik (und Technik und Physik) ist also ebenso blind wie umgekehrt eine Mathematik ohne Kulturgeschichte. Als wenn Kultur auf Kunst beschränkt wäre! Ich möchte doch probeweise und sehr einseitig mal behaupten, daß Einsteins Formel E = m · c2 (mit der man eine Atombombe bauen kann) erheblich wirkungsmächtiger war als beispielsweise alle Feldzüge Napoleons zusammen.

Die Mathematik ist aufgerufen, die Kulturgeschichte kulturgeschichtlich zu ergänzen!

Diese kulturelle Wirkungsmacht der Mathematik gilt es exemplarisch in den "Anwendungen" zu zeigen. Aber es geht um sehr viel mehr als nur um "Anwendungsaufgaben" und die Feier der Anwendbarkeit. Es müßte auch gezeigt werden, wie Mathematik unsere ganze Denkungsart verändert hat (bis hin zum Meßbarkeitswahn).

Klar, daß man sich damit prinzipiell auf ungesichertes, ja, geradezu "philosophisches" Terrain begibt. Gegen die dann immer wieder aufkommenden Zweifel wären dann die "Heureka"-Erlebnisse zu setzen: die der großen Genies – und die des "Normalsterblichen": "ich habe selbständig bewiesen, was auch schon Euklid bewiesen hat; ich bin also genauso gut wie Euklid, stolzer Teil der Kultur und Tradition und sowie ´Avantgarde meinerselbst´!"


Es ist also ein Unding, ja, geradezu ein Verbrechen an der Gesamtkultur wie der Mathematik selbst, nur innermathematisch zu unterrichten.

Mathematik schadet sich selbst am meisten, wenn sie sich nur als Rechnerei verkauft, obwohl sie doch mit ihren kulturellen Talenten so wuchern könnte.