ausgerechnet die Mathematik gibt uns den Trost,
dass wir nicht durch Computer ersetzbar sind

 


"Das letzte Abenteuer
[...]
Durch die Erschließung immer neuer Dimensionen geschieht das Unfassbare: Der Mensch verschwindet in seinem eigenen Arschloch."
(Friedrich Karl Waechter in seinem Meisterwerk )

Natürlich gab es auch schon im Jahr 1900 eine nostalgische Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren alten Zeit:


(… womit nicht der damalige Kaiser Wilhelm II, sondern Wilhelm I gemeint war)

Ansonsten aber schien vielen (privilegierten) Menschen die Welt in Ordnung

(wir wissen ja erst im Nachhinein, dass der Erste Weltkrieg [die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts"] bevorstand - und tatkräftig vorbereitet wurde: ).

Vermutlich wird den damaligen Zeitgenossen nichtmal annähernd bewusst gewesen sein, dass das Jahr 1900 (+/- fünf Jahre) ein markanter Höhepunkt war

(mathematisch gesehen Unsinn: und gleichzeitig ein Wendepunkt?).

Dafür hier nur einige wenige Beispiele:

  1. „Der Beginn des 20. Jahrhunderts war eine atemlose Zeit: Sigmund Freud erforschte die dunklen Seiten der Seele. Die Physik entlockte der Materie das Geheimnis der Atome. Albert Einsteins Relativitätstheorie transformierte Raum und Zeit. Frauen forderten das Wahlrecht. In den Jahren zwischen der Weltausstellung 1900 in Paris und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, bisweilen als Zeit der Ruhe vor dem Sturm verklärt, entstand das moderne Europa.“
    (Quelle: Buchcover von )
  2. „Deutschland um 1900 – das anbrechende 20. Jahrhundert scheint es gut mit den Deutschen und dem Wilhelminischen Reich zu meinen. In den emporwuchernden Mietskasernen für das neue Industrieproletariat der Großstädte mag es gären, doch auf den Ringstraßen der Großstädte flaniert man stolz vor bürgerlichen Prunkbauten, die Wirtschaft floriert, Adel und Militär genießen uneingeschränktes Sozialprestige, und die Mehrheit der Bevölkerung verehrt den Kaiser und übt sich im Untertanengeist. Wilhelm II. liebt seine Dackel, die Marine und Weltmachtträume, die bis China reichen. In Übersee reifen die Kolonialwaren, der Rhein ist romantisch und Elsass-Lothringen deutsch. Auf den rund 800 Bildern dieses Bandes zeigt sich Deutschland überwiegend so, wie es sich gerne sah: selbstbewusst, glanzvoll, patriotisch, bodenständig, konservativ, aber auch fortschrittsgläubig und – wenn man es sich leisten konnte – mondän.“
    (Quelle: Buchcover von )
  3. Gründung des DFB (Deutschen Fußball-Bunds) im Januar 1900, also pünktlich zur Jahrhundertwende;
  4. ein bisschen weiter von 1900 entfernt: Erfindung des Autos (heute ) im Jahr 1885 und des Flugzeugs (heute ) im Jahr 1893.

(Vgl.: so fing's an , und so sieht's heute aus

[unglaublich, dass so ein Koloss schwimmt!],

aber beide funktionieren nach demselben, vor über 2000 Jahren von Archimedes entdeckten Prinzip.)

  1. und nun endlich zu den Wissenschaften:
(von denen inzwischen viele gelöst wurden; vgl. ;
vgl. auch Hilberts Radiovortrag im Jahr 1930 [Originalaufnahme!]: ).

Wichtiger als die Problemliste ist für uns hier aber der ungebrochene damalige mathematische Fortschrittsglaube Hilberts:

„Ein Irrtum Hilberts allerdings […] ist in der Einleitung des Artikels zu finden. Dort bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass jedes Problem grundsätzlich lösbar sein muss:
»Diese Überzeugung von der Löslichkeit [heute wohl Lösbarkeit] eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus [= wir werden es niemals wissen; "kein Ignorabimus" heißt dann aber "wir werden (früher oder später) alles wissen]!«

[…]
Der grundlegende erkenntnistheoretische Optimismus Hilberts musste [später] etwas relativiert werden. Spätestens 1931 mit der Entdeckung des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes und Turings Beweis von 1936, dass das Entscheidungsproblem nicht lösbar ist, kann dieser Denkansatz Hilberts […] in der ursprünglichen Formulierung als zu eng gefasst betrachtet werden.“
(Quelle: )
… womit hier zum ersten Mal Kurt Gödel und sein „Unvollständigkeitssatz“ erwähnt wurde.

Dabei ist der Titel „Principia Mathematica“ pure Anmaßung, nämlich für den Insider eine offensichtliche Anspielung auf Isaac Newtons revolutionär-grandioses Buch , mit dem somit  in eine Reihe gestellt wird.

Anmaßung (Hybris) wird aber von den Göttern mit der Höchststrafe bestraft, nämlich ewigem qualvollem Leben

(vgl. Prometheus , Sysiphos    und Tantalos ;

jadoch, Mathematik hat etwas mit griechischen Sagen zu tun!).

Bzw. „Hochmut kommt vor dem Fall“:


("das weiß doch jeder"; vgl. );
"Die Principia Mathematica stellen den Versuch dar, alle [!] mathematischen Wahrheiten aus einem wohldefinierten Satz von Axiomen und Schlussregeln [...] herzuleiten [...]."
(Quelle: )
Oder moderner gesagt: wenn man die Axiome und Schlussregeln hat, kann auch ein (hier erstmals erwähnt:) Computer jedes (!) mathematische Problem lösen - und bedarf es keiner Menschen (Mathematiker) mehr.

Dann aber ging es folgendermaßen weiter:

"Die offene Frage, ob dieses System von Axiomen und Ableitungsregeln widerspruchsfrei ist und ob sich alle wahren Sätze auf diese Weise herleiten ließen, versuchte das Hilbert[!]programm ab 1922 positiv zu entscheiden. Logiker, die sich daran beteiligten, legten in der Regel die Principia Mathematica [!] zugrunde [...]. Gödel bewies dann aber 1931 in seiner Arbeit Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. einen Unvollständigkeitssatz, der zeigte, dass diese Erwartung, die man in die Principia Mathematica setzte, nicht erfüllbar ist."
(Quelle: ; womit zum zweiten Mal der Name "Gödel" aufgetaucht ist.)
"Da arbeitet der Mann [= Russell] wie besessen daran, der gesamten Mathematik ein solides Fundament zu geben[,] und kurz vor Schluss entdeckt er ein Paradox, an dem das ganze Unternehmen letztendlich scheitert."
(Quelle: )

Was für eine Blamage (auch für Hilbert): ein gigantischer Aufwand - und dann alles für die Katz!

(Aber eben nur scheinbar:


"
[...] so haben Russell und seine Mitstreiter die Voraussetzung für die moderne Informationsgesellschaft geschaffen, indem sie nicht nur die Grundlagen der Logik bearbeiteten, sondern theoretische Voraussetzungen für die praktische Entwicklung des Computers schufen."
[Quelle: ];

Nebenbei: die tiefe Frustration Russells und Whiteheads kann man in dem empfehlenswerten Roman miterleben, obwohl es da

Gödels und Turings Beweise waren aber nicht nur für Russell und Whitehead schockierend, sondern für die gesamte Mathematikerzunft:

„Mathematiker waren bisher der festen Überzeugung gewesen, dass jedes Problem prinzipiell lösbar sei. Vielleicht würde es Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, aber früher oder später, so glaubten sie, würden sie jede Frage eindeutig klären können, jede Aussage entweder beweisen oder widerlegen. Mit einem Schlag waren ihre Hoffnungen enttäuscht und damit ihr Selbstverständnis in Frage gestellt. Gödel hatte unmissverständlich gezeigt: Unsere Erkenntnis hat Grenzen. Selbst die mächtige Mathematik mit ihrer logischen Strenge kann nicht alle Fragen beantworten."
(Quelle: )

(Ein ähnlicher

[wenn auch letztlich enorm produktiver]

Schock war zur gleichen Zeit für Physiker die Quantentheorie, der sich insbesondere der große Einstein mit einem trotzigen „der [= Gott] würfelt nicht“ verweigert hat.)

Damit aber

(Denn schließlich ist er wegen seiner Mathematik in Insiderkreisen berühmt geworden.

Nebenbei: auch ohne die Mathematik ist Gödels Biographie enorm fesselnd, da er der vielleicht auch der größte mathematische Nerd des 20. Jahrhunderts war und damit hübsch alle Vorurteile über Mathematiker bestätigt:


[vgl. Bild 4/2006 ]

Vgl. aber auch und .)

Was ist nun aber Gödels so revolutionärer „Unvollständigkeitssatz“?:

“Er [= der (erste) Unvollständigkeitssatz] weist nach, dass es in hinreichend starken Systemen [???], wie der Arithmetik, Aussagen geben muss, die man formal weder beweisen noch widerlegen kann. Der Satz beweist damit die Undurchführbarkeit des Hilbertprogramms, das von David Hilbert unter anderem begründet wurde, um die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen.“
(Quelle: )

Der Witz bzw. die Ungeheuerlichkeit von Gödels Unvollständigkeitssatz ist also,

(Nebenbei:

[Insbesondere an der Quantentheorie kann man sehen, was für ein populär“wissenschaftlicher“, esoterischer Blödsinn möglich ist; vgl. etwa und ;

Im Hinblick auf Gödels "Unvollständigkeitssatz" vgl. ]

Leider finde ich aber das populärwissenschaftliche Buch nicht mehr, nach dessen Lektüre ich das wohlige Gefühl hatte, Gödels Beweis immerhin ansatzweise verstanden zu haben.)


"Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher,
und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
(Albert Einstein)

Viele (insbesondere einseitig mathematisch denkende?) Schüler hassen die Interpretationen von Literatur im Fach Deutsch, weil sie ihnen völlig willkürlich erscheinen

(und ziehen daraus die Konsequenz, möglichst viel in der Hoffnung aufzuschreiben, zufällig auch das zu treffen, was der Lehrer [scheinbar völlig subjektiv] für die einzig wahre Interpretation hält).

Da freut es mich als (ehemaligen) Mathematik- und Deutschlehrer natürlich, dass es auch in den Naturwissenschaften und der objektivsten aller Wissenschaften, nämlich der Mathematik, Interpretationen gibt - und geben muss.

aus den Rechnungen folgt da immer ein abstraktes mathematisches Ergebnis, das dann aber in die physikalische, also außermathematische Wirklichkeit rückübersetzt bzw. eben im Hinblick auf diese Wirklichkeit „interpretiert“ werden muss:

  1. , um experimentell überprüfen zu können, ob das mathematische Ergebnis auch in der Außenwelt stimmt

(ob also das mathematische Modell im Hinblick auf die Außenwelt richtig gewählt war);

  1. , um experimentell überprüfbare Voraussagen treffen zu können:

erst durch die Interpretation der Mathematik wird da physikalisch Neues denkbar - und dann evtl. auch überprüfbar; beste Beispiele sind da rein mathematisch hergeleitete Voraussagen von erst später nachgewiesenen Elementarteilchen wie z.B. dem Neutrino oder dem Higgs-Boson;

  1. und vielleicht sogar am Wichtigsten (man sollte es kaum für möglich halten) philosophische Interpretationen: dass ein mathematisch-physikalisches Ergebnis nicht nur ein „kleines“ Experiment betrifft, sondern eventuell sogar „große“ Konsequenzen für das Selbstverständnis „des“ Menschen im Kosmos hat;

vgl. etwa

Wenn richtig gerechnet wurde, ist das mathematische Ergebnis felsenfest sicher. Seine Interpretationen sind aber dann ähnlich mit unvermeidbare Unsicherheiten verbunden wie die Interpretationen von Literatur im Fach Deutsch.

Mir scheint aber auch, dass sich die Größe eines Physikers erst darin zeigt, dass er überzeugend interpretieren kann

(und zu erkenntnistheoretischen, also philosophischen Fragen fähig ist)

Alle anderen sind bloß Rechenknechte und auf die Dauer durch Computer ersetzbar.

in seinem Beweis bleibt Gödel rein innermathematisch, liefert er also keine Interpretation - später dann aber sehr wohl:

Leider wird hier nicht wörtlich zitiert, und ich kann auch nicht anderswo finden, was Gödel genau gesagt hat: hat er wirklich von einem geradezu gewalttätigen (Befreiungs-/Erst-?)"Schlag" gegen das Hilbertprogramm gesprochen, und war das von Anfang an seine Absicht?

(Nachträgliche Interpretationen [und Absichten] müssen ja nicht unbedingt die ursprünglichen sein, sondern letztere können auch falsch erinnert oder nachträglich zurechtgelegt sein.)

Der ganze berühmte Beweis wäre dann letztlich nur mathematisches Mittel zu einem philosophischen Zweck gewesen.


Eine andere Interpretation von Gödels "Unvollständigkeitssatz"

(und zwar eine, die mir bislang unbekannt war und mich deshalb nur um so mehr überrascht hat - und derentwegen ich diesen Aufsatz überhaupt schreibe)

stammt von der Mathematikprofessorin Katrin Tent, und zwar lustigerweise aus einem Berufsberatungsfilm:

In dem Berufsberatungsfilm ist leider keine Zeit für eine (verständliche) Begründung bzw. Herleitung von Tents Interpretation

(und interessieren würde mich auch, was genau Mathematiker denn nun besser können als Computer).

Wenn aber Mathematiker etwas können, das Computer prinzipiell nicht können, dann gibt es immerhin (mindestens) eine Fähigkeit, die Menschen (nämlich Mathematiker) den Computern voraus haben - und ist das vielleicht ein Trost für alle Menschen.

(Oder - schon wieder Schluss mit Trost - ist das menschliche Gehirn zwar dem konventionellen, nicht aber dem Quantencomputer überlegen? Vgl. )


PS: man kann Gödels „Unvollständigkeitsatz“ durchaus auf dem hier vorgeführten (unterirdischem?) Niveau in Schulen durchnehmen - und sollte das auch unbedingt tun

(der „Unvollständigkeitssatz“ gehört für mich zur Allgemeinbildung!):

die Schüler haben geradezu ein Recht darauf, von Gödels "Unvollständigkeitssatz" zu erfahren:
  • für Mathehasser wird der Satz eine tiefe Genugtuung sein,
  • für einseitige Mathefreaks ein notwendiger Schock (s.o.).
Im üblichen Schulunterricht kommt Gödels „Unvollständigkeitssatz“ bislang aber nicht vor, ja, sogar während meines Mathematikstudiums habe ich nie von dem Satz erfahren, weshalb ich mich im Nachhinein um ein Juwel der Mathematik betrogen gefühlt habe.