zurück zur Naivität

"Narren stürzen sich auf das,
was Engel nicht zu betreten wagen."

(Alexander Pope)

"Tell me why the Stars do shine,
Tell me why the ivy twines ,
Tell me why the sky's so blue.
Then I will tell you just why I love you.

Because God made the Stars to shine,
Because God made the ivy twine,
Because God made the sky so blue,
Because God made you, that's why I love you.

Diese schlichte, gefühlvolle Liebeserklärung lässt mir noch heute einen Kloß im Hals hochsteigen - es ist eine so süße, so unschuldige, so beruhigende Sicht des Lebens!
Und dann kommt Darwin daher und macht die ganze Idylle kaputt. Oder nicht?
[...]
Und was wäre, wenn sich herausstellt, dass die schöne Vision  - oder eine bessere - unversehrt erhalten bleibt, gestärkt und vertieft durch die Begegnung?
[...]
Und in jedem Fall ist die Vorstellung, wir könnten einen Sinn bewahren, indem wir uns selbst beschwindeln, so pessimistisch und nihilistisch, dass ich für meinen Teil sie nicht ertragen kann."

(Daniel C. Dennett)

Ich werde nie verstehen, wieso sich Wissen und Staunen gegenseitig ausschließen sollen.

1.

Als ich mal jemandem die Mondphasen erklärte und dabei u.a. erwähnte, ich sehe den Mond meist (auch ohne Streulicht der Erde) ganz und dreidimensional; als ich das diesem "jemand" dann sogar hautnah vermitteln konnte - war er ein wenig enttäuscht, seine alte Sicht auf den Mond verloren zu haben.

Ich kann diese Enttäuschung bestens verstehen: es ist, als würde einem urplötzlich der Glaube ans Christkind genommen (man weiß, dass es ach so prosaisch und profan nur die Eltern sind), kann ab dann nie wieder hinter seinen neuen Unglauben zurück - und sehnt sich doch insgeheim ein Leben lang nach dem alten zauberhaften Kinderglauben.

Und dennoch: mir geht es nicht so, ich bin durch die neue, "naturwissenschaftliche" Sicht keineswegs enttäuscht:

  1.  ist der dreidimensionale Mond für mich wenn nicht gar um so schöner, so doch auf ganz neue Art schön;
  2. ist dieser dreidimensionale Mond für mich nur um so mehr "Mann im Mond" (und umgekehrt der Mann im Mond ein feines Mittel, sich die Dreidimensionalität anzuverwandeln);
  3. gelingt es mir problemlos, zwischen der neuen (naturwissenschaftlichen) und alten ("naiven") Mond-Anschauung hin- und herzuschalten: ich sehe, was ich sehen will:

Es ist wie mit Kippfiguren:


Erst sieht man nur eine Ansicht, also entweder rechts und links (gestrichelt) zwei sich gegenseitig ansehende Gesichter oder aber in der Mitte eine Vase bzw. einen Pokal.
Das merkwürdige an solchen Kippfiguren ist:

  1. kann man erst nur eins von beiden sehen (wenn ein anderer das andere sieht, hält man ihn fast für verrückt);
  2. geschieht das Kippen (dass man die andere Ansicht sieht) urplötzlich, und dann kann man kaum mehr glauben, dass man vorher selbst eine andere Figur gesehen hat;
  3. ist es kaum möglich, beide Figuren gleichzeitig zu sehen.

Und doch

  1. kann man letzteres üben: ein Pokal zwischen zwei Gesichtern (was der dort zu suchen hat, ist eine ganz andere Frage; nunja, vielleicht wird da gerade ein Kennenlernspiel wie der Apfelsinentanz aufgeführt);
  2. kann man es üben, permanent hin- und herzuspringen und willentlich mal das eine, mal das andere zu sehen.

Genau um letzteres geht es mir:

willentlich zwischen Wissen (dreidimensionalem Mond, Naturwissenschaft) und Staunen (zweidimensionalem Mond, "naiver" Primärerfahrung) hin und her zu springen.

für mich wird die Natur durch neueste Naturwissenschaft nur um so staunenswerter!

Beispielsweise verstehe ich zwar nur einen Bruchteil der Quantentheorie (wenn man sie - wie die Relativitätstheorie - überhaupt anschaulich verstehen kann), aber immerhin eröffnet sie mit ihren Wahrscheinlichkeiten doch ganz neue, phantastische Freiheitsmomente, und ihr subatomares Brodeln lässt endlich wieder die sonst allzu mechanistische Welt erbeben.
Oder die Urknalltheorie ist doch erst der Anfang aller Fragen:  wie denn kam der Urknall zustande, wie war es möglich, dass unser so unwahrscheinliches Universum entstand (und vielleicht viele Paralleluniversen)?

2.

gilt dasselbe für Literatur (ihre Analyse und Interpretation einerseits, die "naive", einfach nur genießende Lesart andererseits):
Wenn Erich Fromm beispielsweise das Märchen "Rotkäppchen" folgendermaßen interpretiert:

Das "Rotkäppchen" ist ein Symbol der Menstruation. Das kleine Mädchen, von dessen Abenteuer wir hören, ist eine reife Frau geworden und sieht sich jetzt mit ihrer Sexualität konfrontiert.
Die Warnung, "nicht vom Weg abzugehen" und "das Glas nicht zu zerbrechen", ist eine deutliche Warnung vor den Gefahren der Sexualität und dem Verlust der Jungfräulichkeit.
Das sexuelle Begehren des Wolfs wird durch den Anblick des Mädchens geweckt, und er versucht es zu verführen, indem er zu ihm sagt: "Sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen?" Rotkäppchen "schlug die Augen auf". Es befolgte den Rat des Wolfs und "geriet immer tiefer in den Wald hinein". Dabei bedient es sich einer bezeichnenden Rationalisierung: Um sich selbst davon zu überzeugen, daß es nichts Unrechtes tut, sagt es sich, die Großmutter würde sich über die Blumen freuen, die es ihr mitbringen könnte.

Aber dieses Abweichen vom geraden Weg der Tugend wird schwer bestraft. Der Wolf verkleidet sich als Großmutter und verschlingt das unschuldige Rotkippchen. Als er seinen Appetit gestillt hat, schläft er ein.
Soweit scheint das Märchen nur von dem einen moralisierenden Thema zu handeln, der Gefahr der Sexualität. Aber es ist komplizierter. Welche Rolle spielt darin der Mann, und wie wird die Sexualität dargestellt?
Der Mann wird als rücksichtsloses, listiges Tier und der Geschlechtsakt als kannibalische Handlung geschildert, bei der der Mann die Frau verschlingt. Frauen, die Männer lieben und sich an der Sexualität erfreuen, teilen diese Ansicht nicht. Sie ist Ausdruck einer tiefen Feindseligkeit gegen die Männer und die Sexualität. Aber der Haß und das Vorurteil gegen die Männer treten am Schlug der Geschichte nur deutlicher hervor. Auch hier müssen wir uns daran erinnern, daß die Überlegenheit der Frau darin besteht, daß sie Kinder gebären kann. Und wie wird der Wolf lächerlich gemacht? Indem geschildert wird, wie er versucht, die Rolle einer schwangeren Frau zu spielen, die lebendige Wesen in ihrem Leib hat. Rotkäppchen steckt Steine, das Symbol der Unfruchtbarkeit, in seinen Bauch, und der Wolf bricht zusammen und stirbt. Nach dem alten Gesetz der Vergeltung wird seine Tat dem Verbrechen entsprechend bestraft: er wird von den Steinen, dem Symbol der Unfruchtbarkeit, getötet, womit seine Anmaßung, die Rolle einer schwangeren Frau zu spielen, verspottet wird.
Dieses Märchen, dessen Hauptfiguren Frauen aus drei Generationen sind (der Jäger am Ende ist eine konventionelle Vaterfigur ohne wirkliches Gewicht), handelt von dem Konflikt zwischen Mann und Frau; es ist die Geschichte vom Triumph Männer hassender Frauen und endet mit deren Sieg.

so

Bild

- und muss es um der Schönheit dieser Naivität willen ab und zu auch
(nebenbei: psychoanalytisch-sexuelle Deutungen anderer Märchen sind nur dann "dreckig", wenn der Rezipient Sexualität so empfindet).

Nun, ich weiß auch, dass die heute übliche, naive bis geradezu verharmlosende Lesart angeblicher Kinder-Märchen historisch sehr spät, nämlich erst in der Romantik aufkam. Nur macht das diese naive Lesart ja vielleicht einseitig, aber nicht automatisch schlechter. Wir würden uns selbst kastrieren, wollten wir aus dieser uns nunmal in der Kindheit vermittelten Lesart völlig rausspringen, ja, das ist auch gar nicht möglich.

Manchmal kann überhaupt erst die "wissenschaftliche" Interpretation die Wucht, aber auch den Zauber von Literatur wieder hervorholen. Je mehr ich über einige Bücher weiß, desto mehr staune ich oder gehen sie mir unter die Haut (vgl. z.B. "Die Entdeckung des Himmels" von Harry Mulisch).

Allerdings kann eine "wissenschaftliche" Interpretation einen auch gegen allzu naive und dann geradezu gefährliche Lesarten immunisieren.  Z.B. kann man Goethes

Das Heideröslein

Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will's nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

ja auch mal gerade mit seinem naiven und doch traditionell eindeutigen Ton als lakonische Vergewaltigungsverherrlichung bzw. -legitimation verstehen ("wenn Frauen »nein« sagen, meinen sie »ja«, bzw. Frauen werden erst gar nicht gefragt [»ich will's nicht leiden...Mußt' es (!!!) eben leiden«], ihr Widerstand wird schnell gebrochen")!

Denn eins ist traditionell allemal klar: das Röslein ist nicht bloß eine Blume, sondern (u.a., weil es spricht) auch ein Mädchen/eine Frau.

Bild
 

"Immer häufiger zieht sich Annerose zu ihrer Glasmalerei zurück. In ihren Bildern findet sie Ruhe und Ablenkung. Denn schließlich kann sie nicht dauernd daran denken, welche neue Flamme das Herz ihres zu Hause eher biederen Ehegattens entzündet.
So ganz kleine Genugtuungen kann sie sich aber nicht verkneifen. Seine selbstgesetzten Tannen im Garten fallen gnadenlos als Rache für die undurchsichtige Beziehung zur jungen naiven Imke, die ihn mit romantischen Liebesbriefen bombardiert. für seine neue Schreibkraft, eine Freundin aus Studienzeiten, wird sich Annerose auch noch eine Niederträchtigkeit einfallen lassen. Denn wenn man schon selbst an, wie die anderen meinen, krankhafter Eifersucht leidet, sollen wenigstens alle etwas davon haben.
Ingrid Noll ist auch in ihrem neuen Roman Röslein rot die uneingeschränkte Meisterin der winzigen Gemeinheiten und bitterbösen Rachegelüste, so, wie sie von ihren Fans geliebt wird."
(Manuela Haselberger
, zitiert nach Bild )
 

Und doch sollte auch da der Rücksprung zur naiv-volksliedhaften (oder auch durch Schubert künstlerisch verfeinerten [verharmlosten?]) Lesart möglich sein.

Auch in solchem Sinne gilt es vieldimensionales Denken zu lernen/lehren, es macht den modernen "Intellektuellen" schlechthin aus, den man sich keineswegs nur als zerrissener, sondern auch als offener, staunender, wieder naiver vorzustellen hat.

PS: "Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein": natürlich bin auch ich (im Privatleben) in vielerlei Belang unfähig, "Kippfiguren" zu sehen und problemlos zu "springen".