π mal Daumen

 

Was ein richtiger Germanist (und allemal Schriftsteller) ist, hat vor allem einen unbändigen Spaß an Sprache - und gleichzeitig eine Heidenangst vor ihr

(wie die Untaten in Sprache vorbereitet oder mit ihr kaschiert werden;
 aus Schaudern über das viele Unsagbare;
 aber auch, zu welch grausamen Missverständnissen Sprache führen kann).

Eine feine Quelle des Spaßes ist insbesondere der Sprachwitz des Volksmundes:

wer ist eigentlich auf meinen Liebling, nämlich "mein lieber Herr Gesangsverein", gekommen - und wie hat sich dieser Spruch verbreitet?

(... vor allem wohl, weil er so ein herrlich schräger Volltreffer war.)

Mein lieber Herr Gesangverein!
Mit dem Ausruf gibt man salopp seiner Bewunderung, seinem Erstaunen Ausdruck: Das ist vielleicht ein Film. Mein lieber Herr Gesangverein! Der haut dich um! Kommt der doch mit achtzig Sachen auf mich zugefahren. Mein lieber Herr Gesangverein! Ich dacht, mich trifft der Schlag!
(Brockhaus multimedial 2002)


 

Ein hübscher sprachlicher Schwurbel ist allemal auch

 

"π mal Daumen"

 

und ein Muss wie auch eine wahre Lust sind doch für einen Sprachverliebten "etymologische", also Herkunftslexika, in denen ich stundenlang immer wieder staunend und belustigt stöbern könnte:

 

BildBildBild

(wobei ich bei Lexika - anders als ansonsten bei Büchern - die elektronischen, also CD- bzw. DVD-Versionen vorziehe, da sie

Bild Bild Bild ).

So erfährt man dann beispielsweise in Bild:

"Pi mal Daumen
Diese Fügung spielt auf die Wendung »über den Daumen peilen« an und verwendet dabei scherzhaft das Grundmuster einer mathematischen Formel mit der Kreiszahl Pi. In der Umgangssprache steht sie für »so ungefähr, nach grober Schätzung«: Das könnte uns einiges kosten; Pi mal Daumen 10.000 Mark, würde ich sagen."
Brockhaus multimedial 2002

Und ausgehend von »über den Daumen peilen« erfährt man gleich zusätzlich:

[Etwas] über den Daumen peilen
Die Fügung bezieht sich darauf, dass beim Militär der Daumen als Hilfsmittel beim Abschätzen von Entfernungen verwendet wird. Der sogenannte »Daumensprung« hilft bei der Ermittlung des Abstandes, indem die Entfernung durch die scheinbare Bewegung des mit gestrecktem Arm vor die Augen gehaltenen erhobenen Daumens bei abwechselnd geöffnetem Auge abgeschätzt wird. In der Umgangssprache steht der Ausdruck für »[etwas] nur ungefähr schätzen«: Ich habe die Entfernung nur über den Daumen gepeilt. Das sind, über den Daumen gepeilt, 700 Mark.
Brockhaus multimedial 2002

Es ist doch hübsch, wie da eins das andere ergibt. Und könnte es sogar sein, dass "Pi mal Daumen" eine verkürzte Version (Verballhornung?) von "über den Daumen peilen" ist?

verballhornen "(besonders ein Wort, einen Namen) aus Unkenntnis entstellen": Das seit Beginn des 19. Jh.s bezeugte Verb ist von dem Namen des Lübecker Buchdruckers Joh. Ballhorn abgeleitet, bei dem im 16. Jh. eine fehlerhaft korrigierte Ausgabe des lübischen Rechtes erschien [welch nette Anekdote!; H.St.]. [...]
(Duden)

(... wobei das Wort "verballhornen" nicht halb so erfolgreich gewesen wäre, wenn der Name des Buchdruckers nicht so eine hübsch absurde Kombination aus - einzeln jeweils durchaus sinnvoll - "Ball" und "Horn" gewesen wäre.)

Aber ich bleibe erst mal bei "über den Daumen peilen", weil sich da bereits so viele feine Mathematik andeutet:

  1. der schon im Lexikon genannte "Daumensprung"

(was für ein launiger Begriff!)

Bild
kleine Versetzung Bildkleiner Abstand Auge/Bild
Bild
große
Versetzung
Bildgroßer Abstand Auge/Bild

Zwar könnte man mit diesem Verfahren auch die Größe der Versetzung oder den Abstand Bild/Auge berechnen, aber das Verfahren "über den Daumen peilen" dient ja, wie schon in der Lexikondefinition gesagt, gerade nicht zur genauen Berechnung, sondern zur groben Abschätzung

(also einer Fähigkeit, die mir im Mathematikunterricht meist viel zu kurz kommt; vgl. Bild ).

Allerdings wird beim "Daumensprung" eigentlich gar nicht "über" den Daumen (genauer: die Daumenspitze) gepeilt, sondern eher neben ihm her.

"über" gilt eher im zweiten Verfahren:

  1. Bild

Dabei ist es auch hier - und zwar mittels des "Strahlensatzes" - möglich, aus den leicht messbaren Größen

auch die Höhe des Leuchtturms zu berechnen, und zwar zauberhafterweise, obwohl man den Leuchtturm vielleicht gar nicht besteigen kann oder darf

(dann könnte man ja in der Tat viel einfacher ein Maßband an ihm herablassen).

Wohlgemerkt: auch zur Abschätzung der Höhe des Leuchtturms braucht man den Strahlensatz und einige kleine Rechnungen!

(Nebenbei: Entfernungs- bzw. Größenmessungen in technischen Geräten funktionieren beruhen meist auf zusätzlicher Winkelmessung; vgl. etwa Bild )


Damit aber zurück zu

"π mal Daumen".

Das Lexikon nennt einen ersten Grund dafür, dass dieser Ausdruck so komisch wirkt:

"Diese Fügung [...] verwendet [...] scherzhaft das Grundmuster einer mathematischen Formel mit der Kreiszahl Pi."

Damit lässt das Lexikon aber offen, warum die Verwendung des "Grundmuster[s] einer mathematischen Formel mit der Kreiszahl Pi" so scherzhaft bzw. lustig wirkt.

Und welcher "mathematischen Formel mit der Kreiszahl Pi" denn eigentlich?

JedeR hat mal in der Schulzeit (mindestens) zwei Formeln durchgenommen, in denen Bild vorkommt:

  1. zur Berechnung des Kreis-Umfangs: U = 2Bildr, wobei r der Kreis-Radius ist,

  2. zur Berechnung der Kreis-Fläche:     F =   Bildr2.

Das Schöne an diesen beiden Formeln ist, dass da

(und umgekehrt, wenn auch weniger gebräuchlich, aus dem bekannten Umfang bzw. der bekannten Fläche wieder der Radius).

Nun gibt es allerdings auch zwei Nachteile der Formeln:

  1. Bild ist zwar - finde zumindest ich - ein sehr schöner Buchstabe, aber eben doch auch (als griechischer Buchstabe) fremdartig, und zudem steckt dahinter eine auf den ersten Blick scheußliche

(für Mathematiker aber [gerade deswegen?!] äußerst faszinierende)

Zahl, nämlich ungefähr   3,14159265358979 bzw. schon genauer, aber noch lange nicht vollständig.

Mehr noch: Bild ist (der Albtraum vieler SchülerInnen) eine "irrationale" (= unvernünftige!) Zahl, d.h.

(... wobei diese Irrationalität - anders als etwa die von Bild  - im üblichen Unterricht mit gutem Grund nur festgestellt, nicht aber bewiesen wird).

Es kommt noch "schlimmer"

(was aber im üblichen Unterricht nicht mal mehr erwähnt wird):

Bild ist sogar eine "transzendente" Zahl, wobei einem doch ganz andächtig zumute werden kann:

transzendent "die Grenzen der Erfahrung und des sinnlich Erkennbaren übersteigend, übersinnlich, übernatürlich": Der von dem Philosophen Kant aus der scholastischen Philosophie übernommene Terminus beruht auf lat. transcendens (...dentis), dem Part. Präs. von lat. transcendere [...] "hinübersteigen; übersteigen, überschreiten" [...]
(Duden)

transzendente Zahl,
jede reelle Zahl, die keine ↑algebraische Zahl ist, z.B. die eulersche Zahl e und die Kreiszahl p.
Brockhaus multimedial 2002

algebraische Zahl,
jede [...] reelle Zahl, die sich als Lösung einer algebraischen Gleichung einer Variablen mit ganzzahligen Koeffizienten ergibt.
Brockhaus multimedial 2002

(alle Klarheiten beseitigt?)

Oder ein bisschen allgemeinverständlicher gesagt:

Quadratur
[lateinisch] die, Mathematik: [...] geometrische Quadratur, die zeichnerische Umwandlung einer von krummen Linien begrenzten ebenen Fläche in ein flächengleiches Quadrat. Die Quadratur des Kreises, die Verwandlung des Kreises in ein flächengleiches Quadrat mit Verwendung allein von Zirkel und Lineal, ist wegen der Transzendenz der Zahl Bild unmöglich.
Brockhaus multimedial 2002 (farbliche Hervorhebung von mir, H.St.)

Die Quadratur des Kreises (oder: Zirkels)
Der Ausdruck wird bildungssprachlich gebraucht im Sinne von »etwas Unmögliches, eine unlösbare Aufgabe«: So werden wir uns nie einig; Sie verlangen von uns die Quadratur des Kreises. - Botho Strauß schreibt in »Niemand anders«: »Er wird (...) den Fehler entdecken, welcher der Menschheit unterlief, als sie versuchte, die Quadratur des Zirkels zu lösen«.
Brockhaus multimedial 2002

(Was man nicht alles nebenher erfährt, wenn man nicht - wie sonst üblich - gebannt vor der abgenagten Mathematik sitzt wie das Kaninchen vor der Schlange!)

  1. ähneln die Umkreis- und die Flächenformel mit denselben Elementen 2, Bild und r (wenn auch in anderer Reihenfolge und "Funktion") einander wie ein Ei dem anderen - und verwechselt man sie deshalb allzu leicht.

(Dennoch gibt es einen Trick, sich zu merken, welche Formel zu welchem "Problem" gehört:

Wundert es nach solchen Gehirnschwurbeln noch jemanden, dass frustrierten Laien

(und warum nicht auch MathematikerInneN?!)

ab und zu nach einem befreienden Lachen über Mathematik zumute ist, und zwar am besten

(man schlage den Feind mit seinen eigenen Waffen!)

 scheinbar im seriösen Gewande der Mathematik?!

Der Gag kann aber nur gelingen, wenn die Verballhornung (s.o.) - wie etwa in Bildr2 - immerhin mathematisch anfängt, also

Bild mal ...

- und dann erst in Nonsens umkippt, also

... Daumen.

Selbst wenn also "Pi mal Daumen" eine verkürzte Version von "über den Daumen peilen" sein sollte, musste also das Bildvorgezogen werden.

(Es scheint mir noch einen anderen, und zwar rhythmischen Grund dafür zu geben:

Woraus man immerhin auch schon folgern kann, dass das auf "Pi mal" folgende Wort möglichst zweisilbig sein sollte.)

Warum folgt dann aber ausgerechnet der Daumen

(... wenn man mal von der möglichen Herkunft aus "über den Daumen peilen" absieht)?

Was also macht - außer der Zweisilbigkeit, die auch andere Wörter liefern könnten - den Daumen so besonders geeignet?

(Vorsicht: man neigt allzu leicht dazu, einen Endzustand [hier "Daumen"] für den einzig möglichen zu halten oder als besonders sinnvoll zu legitimieren. Merke: Germanisten interpretieren sogar noch Druckfehler mit.)

  1. und vor allem ist "Daumen" - für den beabsichtigten Zweck des "Kippens" - so passend, weil er so unpassend, d.h. völlig unmathematisch ist.

(... wozu allerdings viele andere Wörter ebenfalls geeignet wären, also z.B. - allerdings nicht zweisilbig - "Klobrille". Ja, insbesondere geeignet scheinen Wörter, die die "objektive Würde" der Mathematik untergraben.)

  1. ist immerhin der Daumenquerschnitt - passend zur Kreis"problematik" - rund.

(... was allerdings z.B. bei "Klobrille" auch der Fall ist.)

  1. gibt es nicht "den" Daumen, sondern sind Daumen grundsätzlich individuell, also unterschiedlich groß.

(... was aber z.B. bei "Zeigefinger" auch der Fall wäre.)

"individuell" und "unterschiedlich groß" sind nun aber das glatte Gegenteil aller exakten Mathematik - und insbesondere der auf abermillionen (unsinnig = irrational viele) Stellen hinterm Komma exakten Zahl π.

Aber der Witz macht durchaus auch "tieferen" Sinn:

Die Kombination

  • des übergenauen  und (Hoch-)Mathematischen (π)

  • mit dem Ungenauen und jederzeit zur Verfügung Stehenden (symbolisiert durch den Daumen)

macht ja gerade das schnelle, aber letztlich doch möglichst genaue Abschätzen aus.

Beim Abschätzen bedarf es nämlich eines "Gefühls" für

  1. nebensächliche Details

(z.B. auch allzu genaue Werte wie etwa die dritte Nachkommastelle von Bild),

  1. Größenordnungen,

  2. in der jeweiligen Anwendung möglichen Lösungen

(wenn ich z.B. die Anzahl von Kirchtürmen berechnen soll, ist - 14,35 vermutlich ein ungünstiges, wenn nicht gar unmögliches Ergebnis),

  1. (oftmals) geometrische Beziehungen

(vgl. etwa oben den Strahlensatz)

  1. rechnerische Grundlagen

(z.B. ist es bei der Vereinfachung eines Bruchs ungünstig, den Zähler zu vergrößern, den Nenner aber zu verkleinern).

Anders gesagt:

"Pi mal Daumen"
  • bedarf oftmals sehr wohl mathematischen Grundverständnisses

(beweist es vielleicht sogar überhaupt erst! - und trainiert es umgekehrt?)

  • und ist auch "richtige" Mathematik.

Vgl. auch die sogenannten Bild "Fermi-Probleme", also z.B.

Bild Bild


PS:
  1. Bild
  2. Bild

"Welche Zahl an Tieren ergab die letzte Inventur im Dresdner Zoo? Welches Gewicht hat die »Gloriosa«, die mächtige Glocke im Erfurter Dom? In der Sendung »Pi mal Daumen« geht es ums Schätzen, um Glück und um gutes Allgemeinwissen."

  1. Bild Bild
     

  2. Bild Bild

"Von 08/15-Quizspielen hebt sich »Pi mal Daumen« durch die Eigenart und Qualität der Fragen ab, aber auch durch die Art und Weise, wie sich die Spieler an die richtigen Antworten herantasten. Als Antwort gibt es immer eine Zahl. Die meisten Fragen sind dabei aber so irrwitzig, daß es praktisch unmöglich ist, die Lösung zu wissen. Also gibt Spieler 1 einen Tip ab. Der nächste Spieler erfährt nun, ob Spieler 1 weit, sehr weit oder ganz nah mit seinem Tip lag. Entsprechend wird nun die Antwort von Spieler 2 ausfallen. So geht es reihum, bis alle Spieler eine Einschätzung abgegeben haben."