: ein ausdrücklich antimathematisches Märchen
("ausdrücklich" bedeutet:
ich muss die Mathematik nicht in das
Märchen reininterpretieren [implantieren],
sondern sie steht schon wörtlich im
Märchen drin)
sehr gefallen.
Warum es nicht trotzdem durchnehmen?
Nur ein weiteres Beispiel:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel
aller Kreaturen,
Wenn die so singen oder küssen
Mehr als die Tiefgelehrten
wissen
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird
zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit
werden gatten
Und man in Märchen [!] und Gedichten
Erkennt die wahren
Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte
Wesen fort.
Novalis
(Friedrich Freiherr von Hardenberg,
* 1772 + 1801)
Ein kleines, aber feines Problem dabei ist allerdings, dass die folgenden Zitate ebenfalls von Novalis stammen:
In meinem Elternhaus gab es nur ein einziges Märchenbuch, nämlich
Wer die "Schneekönigin" nicht kennt, sich nur undeutlich erinnert oder meine Zitate nachschlagen will, findet hier die Version, aus der ich unten zitieren:
Für Leute, die ein Hörbuch vorziehen
(in einer anderen Übersetzung):
Und wo ich schon gerade externe Links aufliste, hier noch eine empfehlenswerte Einführung in Andersens Leben und Werk:
"(Glas-)Scherben bringen Glück,
Spiegelscherben
bringen Unglück."
Man kann die „Schneekönigin“ nicht ohne die Einleitung verstehen:
„Erste Geschichte.
welche von dem Spiegel und den Scherben handelt.
[..] [Der Teufel] hatte einen Spiegel gemacht,
welcher die Eigenschaft besaß, daß alles Gute und Schöne, was sich darin
spiegelte, fast zu Nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und
sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. [...] nun könnte man
erst sehen, meinten sie [= die Schüler des Teufels], wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen.
[...] Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über
die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. [...]; da erzitterte der
Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, daß er ihren Händen entfiel und
zur Erde fiel, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke
zersprang. Und nun gerade verursachte er weit größeres Unglück, als zuvor,
denn einige Stücke waren kaum so groß als ein Sandkorn; diese flogen nun in
die weite Welt, und wo Jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen,
und da sahen die Menschen Alles verkehrt, oder hatten nur Augen für das
Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe behielt dieselben
Kräfte, welche der ganze Spiegel besessen hatte. Einige Menschen bekamen
sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, dann aber war es ganz entsetzlich;
das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. [...]“
Man könnte bis hierhin also meinen, der Spiegel
stünde für eiskalte, also mitleids- und lieblose und letztlich zynische, miesmacherische, übertreibende Satire
und sei erst besonders infektiös, wenn seine Splitter sehr klein , also kaum oder gar nicht mehr zu erkennen sind und (fast) unbemerkt überall in den Körper (ins Auge oder sogar Herz) eindringen können.
Das (Kunst-)Märchen "Schneekönigin" ist ansonsten gebaut wie jedes andere (Volks-]Märchen auch:
seit ewigen Zeiten („es war einmal“) ist die Welt (noch) in Ordnung,
"eines Tages" bricht dann das Negative herein,
am Ende und ab da in alle Ewigkeit (s.u.) ist die Welt wieder in Ordnung: "Und wenn sie nicht gestorben sind [und sie sterben nie], dann leben sie noch heute."
Märchen
(und 90 % aller Trivialfilme)
zeigen also, dass
die Ordnung nur kurzfristig gestört werden kann,
die Probleme also lösbar sind (verlässliches "happy end").
Gerade deshalb gilt ja:
Abgesehen von der Vorwarnung in der ersten Geschichte hält auch Andersen sich bei "Die Schneekönigin" daran. Es folgt also erstmal die
(bei Andersen allerdings erstaunlicherweise Großstadt-)
Idylle:
„Zweite Geschichte.
Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen.
Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, daß dort
nicht Platz genug ist, damit alle Leute einen kleinen Garten besitzen
können, und wo sich deshalb die Meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen
müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten, als einen
Blumentopf, besaßen. Sie waren nicht Bruder und
Schwester, aber sie waren sich eben so gut, als wenn sie es wären.
Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern. Da, wo das
Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß, und die Wasserrinne
zwischen den Dächern entlang lief, war in jedem Hause ein kleines Fenster;
man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen
Fenster zu dem andern gelangen.
Beider Eltern hatten draußen einen großen hölzernen
Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie gebrauchten, und ein
kleiner Rosenstock; in jedem Kasten stand
einer; die wuchsen herrlich! Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer
über die Rinne zu stellen, sodaß sie fast von dem einen Fenster zum andern
reichten und zwei Blumenwällen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über
die Kasten herab, und die Rosenstücke
schössen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen
bogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die
Kasten sehr hoch waren und die Kinder wußten, daß sie nicht hinauf kriechen
durften, so erhielten sie oft die Erlaubniß, zu einander hinaus zu steigen
und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen
zu sitzen; da spielten sie dann prächtig.“
Halten wir schonmal fest, was später wichtig wird:
Da das Märchen „Die Schneekönigin“ heißt, ahnt man im Folgenden bei „Winter“, „Schnee“ und „schwarze Wolke“ vielleicht schon eine nahende Wende:
„Im
Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz
zugefroren; aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und
legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch
entstand ein schönes Guckloch, so rund, so rund; dahinter blitzte ein
lieblich mildes Auge, eins vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe
und das kleine Mädchen. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Im Sommer
konnten sie mit einem Sprunge zu einander gelangen, im Winter mußten
sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen
stob der Schnee. »Das sind die weißen Bienen, die schwärmen,« sagte die
alte Großmutter. »Haben sie auch eine Bienenkönigin?« fragte der kleine
Knabe, denn er wußte, daß unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
»Die haben sie!« sagte die Großmutter. »Sie fliegt dort, wo sie am
dichtesten schwärmen! Es ist die größte von allen, und nie bleibt sie
still auf der Erde; sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf.
Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu
den Fenstern hinein, und dann frieren diese so sonderbar und sehen wie
Blumen aus.«
»Ja, das haben wir gesehen!« sagten beide Kinder und wußten nun, daß es wahr
sei.“
Durch „Bienenkönigin“ (der „weißen Bienen“) schon angedeutet, folgt dann zum ersten Mal die Bezeichnung „Schneekönigin“:
„»Kann die
Schneekönigin hier hereinkommen?« fragte das kleine Mädchen.
»Laß sie nur kommen!« sagte der Knabe; »dann setze ich sie auf den warmen
Ofen und sie schmilzt.«“
Kay stellt sich dieses Schmelzen der Schneekönigin so einfach vor -
und die Großmutter antwortet seltsam ausweichend:
„Aber
[!] die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere [!] Geschichten.
Am Abend als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte
er auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch; einige
Schneeflocken fielen draußen, und eine derselben, die größte, blieb auf
dem Rande des einen Blumenkastens liegen; die Schneeflocke wuchs mehr
und mehr und wurde zuletzt wie eine ganze Jungfrau, in den feinsten
weißen Flor gekleidet, der aus Millionen sternartigen Flocken
zusammengesetzt war.“
Spätestens hier wird die Ambivalenz der Schneekönigin deutlich:
„Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eise. Doch sie war lebendig; die Augen blitzten, wie zwei klare Sterne; aber es war keine Ruhe oder Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.“
Und dann herrscht plötzlich wieder eitel Sonnenschein:„[...] und dann kam
das Frühjahr; die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben
bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder
saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über
allen Stockwerken. Wie prachtvoll blühten die Rosen diesen Sommer! Das
kleine Mädchen hatte einen Psalm gelernt, in welchem auch von Rosen die
Rede war; und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen; und sie sang
ihn dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:
Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küßten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu demselben, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage; wie schön war es draußen bei den frischen Rosenstöcken, welche zu blühen nie aufhören zu wollen schienen! Kay und Gerda sahen in das Bilderbuch mit Thieren und Vögeln [...]“
Die (vergehenden) Rosen verweisen also auf das "Christ-Kindlein" und damit Weihnachten, die Jahreszeiten also aufeinander.
(Nebenbei:
Eigentlich müßig, es nochmals zu erwähnen:
„Es war gerade so eins von jenen Glaskörnern, welche vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, – wir entsinnen uns seiner wohl – dem häßlichen Glase, welches alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und häßlich machte; aber das Böse und Schlechte trat recht hervor und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Körnchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun that es nicht mehr weh, aber das Körnchen war da. »Weshalb weinst Du?« fragte er. »So siehst Du häßlich aus!« »Mir fehlt ja nichts!« »Pfui!« rief er auf einmal, »die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ganz schief! Im Grunde sind es häßliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen!« Und dann stieß er mit dem Fuße gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab. »Kay, was machst Du?« rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schrecken gewahrte, riß er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein von der kleinen, lieblichen Gerda fort. Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, sagte er, daß das für Wickelkinder wäre; und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem aber: – konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach ebenso, wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er die Sprache und den Gang aller Menschen in der ganzen Straße nachahmen. Alles, was an ihnen eigenthümlich und unschön war, das wußte Kay nachzuahmen; und die Leute sagten: »Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!« Aber es war das Glas, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es auch, daß er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war. Seine Spiele wurden nun anders, als früher; sie wurden ganz verständig.“
Halten wir kurz fest:
Dann aber ist es wieder Winter:
Kay zieht nun also das Künstliche, Perfekte dem Wirklichen vor. Im Grunde folgt er dabei der platonischen Ideenlehre: dass die "wirkliche" (physikalische) Welt nur ein drittklassiger Abklatsch der perfekten (noch vorsichtig: mathematischen) Ideale sei.
(Nebenbei: fast schon lustig ist es, dass Andersen mit "zehneckiger Stern" einen Fehler macht: Schneeflocken sind aus gutem Grund immer sechseckig: )
Aber weiter im Märchen "Die Schneekönigin":
„Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken; er rief Gerda in die Ohren: »Ich habe Erlaubniß erhalten, auf dem großen Platze zu fahren, wo die anderen Knaben spielen!« und weg war er. Dort auf dem Platze banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an den Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß Jemand, in einen rauhen, weißen Pelz gehüllt und mit einer rauhen, weißen Mütze auf dem Kopfe; der Schlitten fuhr zwei Mal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße. Der, welcher fuhr, drehte sich um, nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kannten; jedesmal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten abbinden wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen; sie fuhren zum Stadtthore hinaus. Da begann der Schnee so dicht niederzufallen, daß der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter; nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, doch das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber Niemand hörte ihn, und der Schnee stob, und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Gräben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vater unser beten, aber er konnte sich nur des großen Ein-Mal-Eins entsinnen.“
Da nun endlich haben wir es: Kay
fällt nicht mehr das „Vater unser“, also das christlichste aller Gebete, ein,
sondern nur das große (!) Ein-mal-Eins, also Mathematik.
Nun kommen in „normalen“ Märchen zwar auch mathematische Minimalbestände vor
(z.B. Zahlensymbolik, und zwar insbesondere die 3 und die 7),
aber ich kenne kein einziges anderes Märchen, in dem ausdrücklich Mathematik vorkommt.
Schon bald stellt sich heraus, was man bei dem „weißen Schlitten", dem "weißen Pelz" und der "weißen Mütze" wohl schon geahnt hat, nämlich wer der Schlittenfahrer ist:
„[...] der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich; der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee; es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß; es war die Schneekönigin.“
Und dann vollzieht sich die zentrale Verwandlung Kays:
„»Wir sind gut gefahren!« sagte sie [= die Schneekönigin]; »aber wer wird wohl frieren! Krieche in meinen Pelz!« Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war als versänke er in einem Schneetreiben. »Friert Dich noch?« fragte sie und küßte ihn auf die Stirn. O! das war kälter, als Eis; das ging ihm gerade hinein bis ins Herz, welches ja schon zur Hälfte ein Eisklumpen war; es war als sollte er sterben; aber nur einen Augenblick, dann that es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte rings umher. [...] Die Schneekönigin küßte Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und Alle daheim vergessen. »Nun bekommst Du keine Küsse mehr!« sagte sie; »denn sonst küßte ich Dich todt!« Kay sah sie an; sie war so schön! ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken; nun erschien sie ihm nicht von Eis, wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, daß er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl; und sie lächelte immer.“
Wohl weil er die Schneekönigin
(die Mathematik?)
„vollkommen“ findet, erzählt Kay ihr als erstes, „daß er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen“
,
womit Kay schon weit über die simpelste Elementarmathematik hinaus gelangt ist.
Auch die weiteren (einzigen) Leistungen Kays sind mathematisch, nämlich rein quantitativ: "er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl".
(Nebenbei , weil es ja so viel Spaß macht, Querbezüge zu erkennen oder herzustellen: zu "denn sonst küßte ich Dich todt!" vgl.
"Der Kuss eines Dementors gehört
zu den schlimmsten Strafen, die in der magischen Welt bekannt und mehr
gefürchtet sind als der Tod. Wenn ein
Dementor seine Kapuze abzieht, saugt das schreckliche Wesen seinem wehrlosen
Opfer durch den Mund die Seele aus. Das Grauenvollste hieran ist, dass die Opfer
danach seelenlos weiterleben: Ein Mensch kann ohne seine Seele existieren,
solange seine Lungen noch arbeiten und sein Herz noch schlägt. Übrig ist aber
nur sein lebendiger Körper ohne Steuerung, Wahrnehmung und Bewusstsein."
[Quelle:
])
Kay ist dann ganz schnell mit der Schneekönigin in deren Schloss:
„Fünfte Geschichte
Das kleine Räubermädchen
[vgl. , nur dass Andersens Räubermädchen viel interessanter ist]
[...]
»Was sagt Ihr dort oben?« rief Gerda. »Wohin reiste die
Schneekönigin? Wißt Ihr etwas davon?«
»Sie reiste wahrscheinlich nach
Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Rennthier [...].«
»Dort ist Eis und Schnee [...]!« sagte das Rennthier. »[...] Dort hat die
Schneekönigin ihr Sommerzelt; aber ihr bestes Schloß ist oben, gegen den Nordpol
hin, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!«“
[...]
"Siebente Geschichte.
Von dem Schlosse der Schneekönigin, und was sich später
darin zutrug.
Des Schlosses Wände waren gebildet von treibendem Schnee,
und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden; es waren über hundert Säle
darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte; der größte erstreckte sich
mehrere Meilen lang; das starke Nordlicht beleuchtete sie alle, und wie groß und
leer, wie eisig kalt und glänzend waren sie! Nie gab es hier Lustbarkeiten,
nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei
die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen
können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie
ein kleiner Kaffeeklatsch von Weißen-Fuchs-Fräuleins; leer, groß und kalt war es
in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, daß man zählen
konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in
diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorner See, der war in
tausend Stücke zersprungen; aber jedes Stück war dem andern gleich, daß es ein
vollkommenes Kunstwerk war; und mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn
sie zu Hause war; dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes säße, und
daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war blau
vor Kälte, ja fast schwarz; aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den
Frostschauer abgeküßt und sein Herz glich einem Eisklumpen."
In dem Schloss gibt es also keinerlei Freude ("Lustbarkeiten", "Bärenball", "Spielgesellschaft"), sondern nur Einsamkeit - und Eiseskälte, die Kay aber wegen seines eingefrorenen Herzens nicht mehr bemerkt.
Bemerkenswert ist zudem:
"Die Nordlichter flammten so [perfekt!] genau, daß man zählen [!] konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen."
"Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorner See, der war in tausend Stücke zersprungen; aber jedes Stück war dem andern gleich, daß es ein vollkommenenes Kunstwerk war": ein Rückverweis auf den zerbrochenen Spiegel in der ersten Geschichte.
("jedes Stück war dem andern gleich" widerspricht allerdings der Tangram-Deutung unten.)
"[...] dann sagte [...] [die Schneekönigin], daß sie im Spiegel des Verstandes [!] säße, und daß dieser der einzige und der beste der Welt sei."
Wenn wir das nun endgültig auf die Mathematik beziehen, erscheint diese in all ihrer Arroganz: dass nur sie die Wirklichkeit erfassen könne
(vgl. die Mathematisierung fast aller Wissenschaften heutzutage, die sich ihre Wissenschafts-Legitimation bei der Mathematik zu leihen versuchen).
Aber es ist eben ein Spiegel aus Eis - und er ist zerbrochen.
Bleiben wir jedoch erstmal
(wie die meiste Zeit auch der Erzähler des Märchens)
bei Gerda, die Kay sucht und auf ihrer Reise
(typisch für viele Märchen; vgl. nur etwa )
einen „roadtrip“ bzw. ein „roadmovie“ durch halb Skandinavien hinlegt
(am Ende des Märchens, nach Kays Befreiung aus dem Eisschloss, wird diese Reise in umgekehrter Reihenfolge und im Zeitraffer zurückgelegt).
Dabei begegnet sie einigen herrlich schrägen Gestalten
(z.B. „Da drinnen war eine Hitze, daß die Finnin fast nackt ging; sie war klein und schmutzig; gleich löste sie die Kleider der kleinen Gerda und zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, – denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, – legte dem Rennthiere ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfische geschrieben stand [...]“).
Aber letztlich haben mich all die Zwischenstationen doch gelangweilt.
Vermutlich dienen sie nur dazu zu zeigen, dass man nichts (und schon gar nicht auf Anhieb) geschenkt bekommt, sondern es sich verdienen muss.
An einer Stelle wird das besonders deutlich:
„Sechste Geschichte.
Die Lappin und die Finnin.
[...]
die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber
nichts.
»Du bist sehr klug,« sagte das Rennthier; »ich weiß, Du kannst alle
Winde der Welt mit einem Zwirnfaden zusammenbinden; wenn der Schiffer den einen
Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht er scharf,
und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, daß die Wälder umfallen.
[...] kannst Du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, daß sie Gewalt über das
Ganze erhält?«
»Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon
besitzt; siehst Du nicht, wie groß die ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und
Thiere ihr dienen müssen, wie sie mit nackten Füßen so gut in der Welt
fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten; die besitzt sie in
ihrem Herzen; die besteht darin, daß sie ein liebes unschuldiges Kind ist. Kann
sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen
Kay bringen, dann können wir nicht helfen!«
[...]“
Und die Moral von der Geschicht‘?: es gibt keinen Zauber (mehr), sondern die Kraft steckt allein in Gerda selbst. Dass sie diese Kraft
(eine ganz friedfertige „Gewalt“, dass „Menschen und Thiere ihr dienen müssen“)
tatsächlich besitzt, hat Gerda aber schon in den vorhergehenden Episoden beweisen und ist augenfällig: „Siehst Du nicht [...]?“
(= so blind kann man doch gar nicht sein, es nicht zu sehen.)
Nun aber doch wieder zu unserem Mathematicus Kay: was tut der eigentlich den lieben langen Tag lang außer „[...] schlief er [wie ein Schoßhündchen] zu den Füßen der Schneekönigin“ (vgl. Ende der zweiten Geschichte)?
Damit wieder zur siebten Geschichte:
„[...]
Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke [s.o. Splitter des zugefrorenen Sees im größten, „unendlichen“ Saal des Schlosses] hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinander fügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay ging auch und legte Figuren, und zwar die künstlichsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit: das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß!“
[...]“
(Nebenbei?: es ist natürlich „typisch Mathematiker“, das stumpfe und ewig lange Zusammensetzen eines gigantischen Puzzles
für „von der größten Wichtigkeit“ zu halten.
Aber so nebenbei ist das gar nicht, sondern tatsächlich „von der größten Wichtigkeit“, denn immerhin arbeitet Kay
[wie wir unten noch sehen werden]
damit
[wenn auch erfolglos]
an seiner Erlösung, die ihm unbewusst eben doch wichtig zu sein scheint.)
Mit
„Es war als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt.“
hat Andersen einen deutlichen Hinweis (Wink mit dem Zaunpfahl?) gegeben, wie das „Eisspiel des Verstandes“ funktioniert, nämlich wie das Legespiel
:
... womit wir so nebenbei noch zwei andere interessante Dinge erfahren:
„»Zerschneiden« eines [großes] Quadrates in zwei [gleich große und rechtwinklige] Dreiecke, ein mittelgroßes [rechtwinkliges] Dreieck, zwei [gleich große] kleine Dreiecke, ein [kleines] Quadrat und ein Parallelogramm“,
womit die halbe Elementargeometrie erledigt ist
(und hört sich sowieso schon schrecklich nach Mathematikunterricht an: ).
Und in der Tat wird Tangram heutzutage gerne im Mathematikunterricht eingesetzt:
*
*
A propos „Geschriebenes“:
wie schon auf der Verpackung des Tangram-Spiels deutlich wird, kann man mit den Plättchen auch
(teilweise arg stilisierte)
Buchstaben zusammensetzen:
Eine vollständige Version:
Und daraus lässt sich dann
(wenn auch arg ungelenk)
z.B. das Wort
zusammensetzen
(wobei man allerdings für jeden Einzelbuchstaben einen eigenen -Set braucht).
Oder aus Eisstücken:
Damit aber weiter im Märchen-Text:
„Er [= Kay] legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren; aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er haben wollte, das Wort: Ewigkeit. Die Schneekönigin hatte gesagt: »Kannst Du diese Figur ausfindig machen, dann sollst Du Dein eigener Herr sein, und ich schenke Dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe«. Aber er konnte es nicht.“
Nun sollten wir aber nicht überheblich auf Kay herabschauen, weil ihm nicht gelungen ist, was uns mit ganz leicht gelungen ist: schließlich hat Andersen nicht von „dem“ chinesischen Spiel gesprochen, sondern nur mit ihm verglichen:
„Es war als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt.“
Vermutlich war von der Schneekönig eine ganz andere und komplexere Figur als gemeint.
„Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal
wegbegeben!„
(Goethe: Der Zauberlehrling)
Kaum aber ist die Alte (die Schneekönigin) mal aus dem Haus
(um eben mal kurz den Ätna und den Vesuv „weiß“ zu machen, also einzufrieren),
schon spaziert Gerda ganz undramatisch in das Eisschloss herein:
»Rosen, die blü'hn und verwehen;
Wir werden das
Christkindlein sehen!«
Da brach Kay in Thränen aus: er weinte so, daß das
Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm; nun erkannte er sie und jubelte: »Gerda!
Liebe kleine Gerda! – Wo bist Du doch so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?«
Und er blickte rings um sich her.
»Wie kalt ist es hier! Wie ist es hier weit
und leer!« und er klammerte sich an Gerda an, und sie lachte und weinte vor
Freuden; das war so herrlich, daß selbst die Eisstücke vor Freuden rings umher
tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie in den
Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, daß er sie ausfindig
machen solle, dann wäre er sein eigener Herr und sie wolle ihm die ganze Welt
und ein Paar neue Schlittschuhe geben.“
Das (scheinbar?) mathematische Problem löst sich da also in der Atmosphäre allgemeiner Freude von selbst - oder weil nicht nur (s.o.) Menschen und Tiere, sondern sogar Dinge (Eisstücke) der grundguten Gerda gehorchen müssen?
( : "[...] durch ihre Liebe werden die Eisstücke belebt.")
Und dann wird erstmal geherzt und von Kopf bis Fuß abgeschlabbert , dass es eine wahre Freude ist:
„Und Gerda küßte seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küßte seine Augen und sie leuchteten gleich den ihrigen; sie küßte seine Hände und Füße, und er war gesund und munter.“
Oder anders gesagt: Kay ist endgültig von der Mathematik geheilt, und deshalb spielt die Mathematik im folgenden keine Rolle mehr - sondern ihr Gegenteil, nämlich die blühende Natur und das Christentum
(was für Märchen wohl ebenso ungewöhnlich ist wie das Vorkommen von Mathematik):
„Und sie faßten einander bei den Händen und wanderten
aus dem großen Schlosse heraus; sie sprachen von der Großmutter und von den
Rosen oben auf dem Dache; und wo sie gingen, ruhten die Winde und die Sonne
brach hervor; und als sie den Busch mit den rothen Beeren erreichten, stand das
Rennthier da und wartete; es brachte noch ein anderes junges Rennthier mit,
dessen Euter voll war; und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küßte
sie auf den Mund. [...]
Das Rennthier und das Junge sprangen zur Seite und
folgten bis zur Grenze des Landes; dort sproßte das erste Grün hervor; da nahmen
sie Abschied von den Rennthieren und von der Lappin. »Lebt wohl!« sagten Alle.
Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne
Knospen [...]
Aber Gerda und Kay gingen Hand in Hand, und wo sie gingen, war
es herrlicher Frühling mit Blumen und Grün; die Kirchenglocken läuteten und sie
erkannten die hohen Thürme, die große Stadt; es war die, in der sie wohnten; und
sie gingen in dieselbe hinein und hin zur Thüre der Großmutter, die Treppe
hinauf, in die Stube hinein, wo Alles wie früher auf derselben Stelle stand
[...] aber indem sie durch die Thüre gingen, bemerkten sie, daß sie erwachsene
Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster
herein, und da standen die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich
ein Jeder auf den seinigen und hielten einander bei den Händen; die kalte, leere
Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie wie einen schweren Traum
vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der
Bibel: »Werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes nicht
schauen!«
Und Kay und Gerda sahen einander in die Augen und verstanden auf
einmal den alten Gesang:
»Rosen, die blüh'n und verwehen:
Wir werden das
Christkindlein sehen!«
Da saßen sie Beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer wohlthuender Sommer.“
So ganz nebenbei ist das Märchen
(wie viele andere Märchen)
also auch eine Geschichte des Erwachsenwerdens bzw. neudeutsch des „coming of age“, wobei der Clou natürlich darin besteht, wie die Kinder zu werden, also unschuldige (mathematiklose) Kinder zu bleiben.
Und wenn sie nicht verheiratet sind, dann leben sie noch heute
(und in , amen!).
Für eine geradezu biedermeierliche Verniedlichung halte ich folgenden Satz aus dem Wikipedia-Artikel über das Märchen „Die Schneekönigin“:
"Wie viele andere Märchen Andersens thematisiert auch dieses das kleine Glück der einfachen, guten Leute und ist humorvoll und ironisch.“
Das hat Andersen nun wahrhaft nicht verdient!
Schon treffender scheint mir der bereits oben genannte Text
:"[...] eine Geschichte, die gegen die Entzauberung der Welt protestiert. Oder auch gegen eine Schule, die ein eisiges Gefängnis ist, in dem nur kaltes Wissen vermittelt wird. Die philosophische Metapher war für die Zeitgenossen leicht zu dechiffrieren: Hütet euch vor der Perversion der Aufklärung in kalte, rationalistische Lehre [...]"
Es wundert mich aber, dass nirgends das Kind beim Namen genannt wird: nämlich die Mathematik als Inbegriff bzw. Symbol "der Perversion der Aufklärung in kalte, rationalistische Lehre".
PS: ... was natürlich nicht meine Meinung ist.