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Es gibt zwei Arten von Sternstunden der Mathematik:

  1. rein innermathematisch:

● das Staunen über ihre innere Schönheit

(vgl. Bild und Bild ),
  • ● das Staunen, wenn eine langer Beweis urplötzlich zur "Wahrheit" implodiert

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  • ● das schallende "Heureka", wenn man selbst fündig wurde.

Diese innermathematische Schönheit (und dass Mathematik überhaupt eher ein Spiel ist)  ist vielen Laien kaum vermittelbar, ja da scheiden sich die Geister: es gibt halt Menschen, die diesbezüglich "farbenblind" sind, und ihnen von der Schönheit der Mathematik zu erzählen ist so, als wollte man einem (Farben-)Blinden die Farbe Rot erklären. Bzw. umgekehrt muss ein Mathematiker ihnen als Phantast erscheinen.

Und wenn ich sehe, wie viele "Mathematiker" heutzutage andauernd nach Anwendung schreien, so scheint mir, dass diese innere Schönheit der Mathematik (also das, was Mathematik für mich zentral ausmacht, ja ist) auch ihnen nicht zu vermitteln ist: wer sich als Pythagoräer oder Innermathematiker outet, steht gleich als weltfremd und sowieso ökonomisch nicht verwertbar da.

  1. (und darum soll's mir hier vor allem gehen) das eigentlich noch viel Verwunderlichere, ja schier Unfassbare:

"Wie ist es möglich, daß die Mathematik, letztlich doch ein Produkt menschlichen Denkens unabhängig von den Erfahrungen, den wirklichen Gegebenheiten so wunderbar entspricht?"
(Albert Einstein)

Mehr noch:

die Mathematik "entspricht" nicht nur den (äußeren) Gegebenheiten, sie

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zeigt sie oftmals überhaupt erst.

Das vielleicht berühmteste Beispiel ist da die Entdeckung des Planeten Neptun.

Im Folgenden halte ich mich weitgehend an das wirklich lesenswerte Buch

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Nur bringe ich es noch deutlicher auf den mathematischen Punkt!

Die Vorgeschichte:

  1. im Jahr 1801 entdeckte der Sizilianer Piazzi den Kleinplaneten Ceres. Allerdings konnte er ihn nur wenige Tage beobachten, bevor er ihn wieder aus den Augen verlor. Dennoch gelang es dem "fürsten der Mathematik", Carl Friedrich Gauß, aus den wenigen Bahndaten mathematisch zu berechnen und vorauszusagen, wo man den Planeten am Sternenzelt wiederfinden könnte, was dann auch tatsächlich gelang.

Das allein scheint mir schon unglaublich genug. Aber - und das ist der entscheidende Unterschied zum Folgenden - die Ceres war vorher schon mal mit einem Teleskop beobachtet worden, und Gauß baute "nur" auf diesen Daten auf bzw. "entdeckte" sie am Schreibtisch "nur" wieder.

  1. Im Jahre 1781 hatte der Astronom Friedrich Wilhelm Herschel mittels Teleskop den bis dahin unbekannten Planeten Uranus entdeckt (und damit überhaupt den ersten neuen Planeten seit der Antike), der den Astronomen allerdings zunehmend Kopfzerbrechen bereitete, weil seine tatsächliche Bahn sich kaum an die vorberechnete Bahn hielt: die Abweichungen wurden immer eklatanter.

Dann taten im Jahre 1845/46 (und das ist das eigentliche Thema von Standages Buch) zwei Mathematiker, nämlich der Franzose Jean-Joseph Le Verrier und der Engländer John Adams, anscheinend unabhängig voneinander etwas schier Unglaubliches:

sie berechneten aus den Bahnabweichungen des Uranus die Position des bis dahin unbekannten (und damit auch noch namenlosen) Planeten Neptun, der für eben diese Bahnabweichungen des Uranus sorgte, und prompt wurde der Neptun dann genau in dem Bereich des Himmels gefunden, den Le Verrier und Adams vorausberechnet hatten.

Der Neptun wurde also (anders als der Uranus oder auch die Ceres vorher) nicht mittels Teleskop, sondern am Schreibtisch und mittels Mathematik gefunden:

welch ein Triumph der newtonschen (Himmels-)Physik, aber auch der Mathematik!

(Es mag zynisch klingen, aber da interessiert doch überhaupt nicht mehr der Astronom, der, den mathematischen [so wortwörtlich Le Verrier] "Anweisungen" folgend, den Neptun dann erstmals als Planet durch ein Teleskop am Himmel sah. Er hat doch "nur noch" bewiesen, dass die Mathematik richtig war bzw. wie enorm leistungsfähig sie ist.)

The Times
4.8.1846

"Die Mathematik transportiert uns in die Regionen des Unbekannten, von wo wir mit herrlichen neuen Entdeckungen zurückkehren [...]"

Dabei halte ich es schon fast für eine Ironie des Schicksals, dass der Neptun (wie auch der Uranus vor Herschel) durchaus schon lange vorher mehrfach beobachtet, nur eben nicht als Planet erkannt, sondern für einen Stern gehalten worden war.

(Das erinnert an Columbus, der nie auch nur geahnt und zu Lebzeiten auch nie erfahren hat, dass er einen neuen Kontinent entdeckt hat; zwar ist die Entdeckung - anders als bei den Astronomen, die den Neptun vorher schon gesehen, aber nicht als Planeten eingestuft hatten - untrennbar mit seinem Namen verbunden, aber dennoch hat sich die Geschichte an ihm gerächt, indem sie den neu entdeckten Kontinent nach Amerigo Vespucci benannte.
Man könnte also böse sagen: Blödheit bzw. Blindheit muss auch bestraft werden, bzw. die Geschichte geht gnadenlos über sie hinweg, sie löscht die Verlierer völlig aus.)

Es gibt aber sogar noch weitere Ironien, die die "Macht" der Mathematik ein wenig relativieren

(ohne allerdings im mindesten die genialen Leistungen von Le Verrier und Adams zu schmälern),

bzw. hier zeigt sich der Hintersinn des Worts "Sternstunde":

Stern|stun|de (glückliche Schicksals[!]stunde)

(Duden)

  • Le Verrier und Adams konnten überhaupt erst aufgrund der Daten um 1840 auf ihre Entdeckung kommen, weil erst dann (zum ersten Mal seit der Entdeckung des Uranus) die beiden Planeten Uranus und Neptun nahe genug beieinander standen, um eine so große Anziehung aufeinander auszußben, dass die Uranusbahn markante "Macken" zeigte;
    oder umgekehrt: der Wunsch bzw. die Notwendigkeit, die Bahnabweichungen des Uranus durch einen neuen Planeten zu erklären, konnte vielleicht überhaupt erst in dieser Zeit aufkommen

(womit - wie so oft in der Naturwissenschaft - die Idee "einfach" in der Luft lag und dementsprechend zwei Mathematiker gleichzeitig, aber unabhängig voneinander drauf kamen).

  • Und sowohl Le Verrier als auch Adams waren aufgrund des falschen, damals aber für richtig gehaltenen "Bode-Gesetzes" von falschen Voraussetzungen ausgegangen, hatten nämlich beide die Masse des zu entdeckenden Neptun und den Radius seiner Umlaufbahn um die Sonne für erheblich zu groß gehalten.
    Nun verhält sich laut Newton die Anziehungskraft zweier Körper bzw. Planeten

    • proportional zum Produkt ihrer Massen (Gewichte)

    • und antiproportional zum Quadrat (!) ihrer Entfernung voneinander.

    Kurz gesagt: da heben sich in den Rechnungen zu große Masse und zu große Entfernung teilweise gegeneinander auf. Aber eben nur teilweise, weil die zu große Masse des einen Körpers (des Neptun) "einfach", die zu große Entfernung aber quadratisch eingeht.

    Le Verrier und Adams hatten einfach "nur" das Glück, dass sich ausgerechnet in dem Zeitraum, auf den sie sich bezogen, die beiden Fehler fast genau gegenseitig aufhoben.

Bemerkenswert ist, dass solche Sternstunden der Mathematik tatsächlich was mit den Sternen (Planeten) zu tun hatten.

Es ist aber noch erheblich erstaunlicher, aber auch irritierender, was die Mathematik leisten kann:

  • sie kann nicht nur Fakten voraussagen, die (wie beim Neptun) dann später auch tatsächlich eintreten oder auch anders eintreten könnten

(vielleicht hätte irgendjemand

[z.B., wenn sich Le Verrier und Adams grob verrechnet oder nicht die o.g. günstigen Umstände mitgespielt hätten]

den Neptun später ja auch durch ein Fernrohr entdeckt, zumal die Teleskoptechnik immer besser wurde;

entscheidend ist ja, dass der Neptun auch ohne Mathematik sichtbar ist);

  • sondern sie führt sogar in Gefilde, die ohne Mathematik überhaupt nicht zugänglich sind und vermutlich auch niemals sein werden.

    Die Quanten- und Relativitätstheorie zeigen mit nur noch mathematischen Mitteln,

    • was wir prinzipiell nicht sehen können,

    • und nicht nur das, was (wie etwa die inzwischen neu entdeckten Planeten anderer Sterne) zu weit entfernt ist oder zu klein.

    Sie handeln von Dingen, die wir uns (bislang?) überhaupt nicht vorstellen und durch keinerlei innere Bilder repräsentieren können.

(Aber vielleicht können wir uns evolutionär bedingt nur vorstellen, was wir prinzipiell auch sehen könnten. 
Und dennoch sind Quanten- und Relativitätstheorie nicht reine Spekulation: die Ergebnisse ihrer Berechnungen stimmen durchaus mit der Wirklichkeit überein.)

Beispielsweise Elektronen,

  • die wir uns

(mechanistisch, wie wir alle in Folge der hier ja gerade behandelten Erfolge der newtonschen Mechanik noch rettungslos denken)

doch laut Schulunterricht immer noch als Kügelchen vorstellen, welche um den (ebenso massiven) Atomkern kreisen

(nebenbei: man beachte die erst ungemein hilfreiche, dann aber - wie sich im Nachhinein herausstellte - allzu suggestive Parallele zu Planeten[!]bahnen),

  • und die immerhin doch Grundbausteine unserer so massiven Wirklichkeit sind,

sind nach neuerer Theorie tatsächlich "nur" noch Mathematik

(womit man sagen könnte, dass die Mathematik solipsistisch zu sich selbst zurück kehrt bzw. die Welt "auffrisst";
und hier sei mal ganz  von den anderen erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen abgesehen, die sich u.a. mit den Elektronen ergeben).

Mit ihrem Satz

"Die Mathematik transportiert uns in die Regionen des Unbekannten, von wo wir mit herrlichen neuen Entdeckungen zurückkehren [...]"

hatte die Times noch mehr Recht, als sie vermutlich ahnte:

Die Mathematik ist eine Sonde, ein Endoskop in für uns nicht direkt erreichbare Regionen:

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ein "Scharzes Loch"

In der Tat wird da die Welt (oder genauer: ein Teil von ihr) uneinholbar abstrakt, und deshalb muss man daran erinnern, dass

  • diese mathematische Welt menschengemacht ist, also auch das "Genie" des Menschen beweist

(etwa so, wie Kopernikus meinte, mit seiner Heliozentrik den Menschen keineswegs aus dem Mittelpunkt des Weltalls entfernt, sondern ihn - eben als Entdecker der Heliozentrik - überhaupt erst in dessen Mittelpunkt gestellt zu haben;
fast könnte man sagen, er hat den Körper erniedrigt und den Geist erhöht)
;

  • solche "Sonden" ganz normal sind: wer grundsätzlich gegen (solche) Mathematik ist, darf auch keine Brille tragen

(es gilt nämlich dringend einem im besten Fall billig nostalgischen, im schlimmsten Fall gemeingefährlich reaktionären antiintellektuell-antiabstrakten Affekt zu widersprechen - der aber doch gleichzeitig verständlich ist, wenn das Subjekt der Welt nur noch entfremdet ist);

  • die Wirklichkeit, die uns mittels solcher Sonden sichtbar wird, doch keineswegs kalt, sondern atemberaubend schön ist:

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Und dennoch - um auf den Neptun zurück zu kommen - hat all das auch einen bitteren Beigeschmack:

  • ein Zeitgenosse über Le Verrier:

"Ich glaube fast, er hat [den immerhin doch sichtbaren Neptun] nie gesehen [...] [und] dass für ihn die Erkenntnis des Universums hauptsächlich in Gleichungen, Formeln und Logarithmen bestand."

Um Himmels (!) willen, was ist Le Verrier da entgangen!

  • Und Adams sagte über Le Verrier, es sei diesem gelungen (?),

"[...] alle Hauptplaneten unseres Sonnensystems, vom Merkur bis zum Neptun, in die Fesseln [!] der Mathematik zu legen."

Da haben wir sie eben auch: die Mathematik als Gefängniswärter und Sadist.

PS: Die Entdeckung des Neptun blieb keineswegs das einzige Beispiel dafür, dass Mathematik physikalische Phänomene voraussagen konnte. Sondern beispielsweise hat James Clerk Maxwell im Jahre 1864 als Ergebnis seiner Rechnungen die bis dahin völlig unbekannten Radiowellen oder Einstein 1915 auf rein mathematischem Weg die bis dahin als aberwitzig geltende Ablenkung des Lichts in Gravitationsfeldern vorausgesagt - und wurden beide Phänomene erst später in der "Wirklichkeit" entdeckt.
PPS: Vgl. auch  Bild "Gibt es einen 10. Planeten?"
PPPS: Die rechnerische Voraussage von erst später Entdecktem funktioniert auch im ganz Kleinen: 1930 hat Wolfgang Pauli Elementarteilchen namens Neutrinos rechnerisch vorausgesagt, und erst 1956 wurden sie dann auch wirklich nachgewiesen.
PPPPS:
vgl. auch Bild  
PPPPPS:: Bild Bild