Anwendungen
oder
das Hohelied der reinen Mathematik
und der Grundlagenforschung
:
"Die meisten Möwen begnügen sich mit den einfachsten Grundbegriffen des Fliegens, sind zufrieden, von der Küste zum Futter und zurück zu kommen. Ihnen geht es nicht um die Kunst des Fliegens, sondern um das Futter*. Jonathan aber war das Fressen unwichtig, er wollte fliegen, liebte es mehr als alles andere auf der Welt."
[...]
"»Sieh einmal, Jonathan«, sagte sein Vater
nicht unfreundlich. »[...] Zweck des Fliegens ist, dass man etwas zu essen hat,
vergiss das nicht.« Jonathan nickte gehorsam. Einige Tage lang versuchte er,
genauso wie die übrigen Möwen zu sein; er gab sich wirklich alle Mühe, er
flatterte und kreischte mit dem Schwarm um die Anlegestellen und Fischerboote
und schnappte im Sturzflug nach Fischabfällen und Brotkrumen, aber er war nicht
glücklich dabei. Es ist so sinnlos, dachte er und ließ absichtlich eine mit Mühe
ergatterte Sardine fallen, die ihm eine alte hungrige Möwe abjagen wollte.
Schade um die Zeit – wie viel könnte ich da richtig fliegen üben. Ich muss noch
so viel lernen! Und so dauerte es denn nicht lange, und die Möwe entwischte
wieder, wagte sich weit auf die offene See hinaus und machte hungrig, aber
glücklich neue Flugversuche."
[...]
"Ich bin eine Möwe, dachte er, ich bin wie
die anderen Möwen, ich will auch fliegen wie die anderen Möwen. So stieg er
mühsam bis zu dreißig Meter Höhe, schlug angestrengt mit den Flügeln und strebte
der Küste zu. Er war erleichtert über die Entscheidung. Er fühlte sich befreit
von allem Zwang zum Lernen, von nun an würde es keine Herausforderung mehr
geben, keine Fehlschläge. Und es war angenehm, so gedankenlos durch das Dunkel
auf die Lichter an der Küste zuzufliegen."
[...]
"[Aber] Ohne Bedenken brach er das
Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Derlei Schwüre gelten nur für
Möwen, die mit dem Mittelmaß zufrieden sind. Wer einmal das Außerordentliche
erfahren hat, kann sich nicht mehr an die Normen des Durchschnitts binden."
[...]
"Und er lebte – leise bebend vor Entzücken,
stolz, seine Furcht bezwungen zu haben."
[...]
"Ich habe höchste Geschwindigkeit erreicht,
über zweihundert Stundenkilometer. Ein beispielloser Erfolg, das größte Ereignis
in der Geschichte des Schwarms. Eine neue Epoche beginnt."
[...]
"Verstellte er nur eine einzige Feder an der
Flügelspitze um wenige Millimeter, so erreichte er auch bei großen
Geschwindigkeiten eine weiche, fließende [vereinfacht mathematisch
ausgedrückt: stetige und differenzierbare] Kurve."
[...]
"Wenn die anderen von diesem großen
Durchbruch hören, werden sie vor Freude außer sich sein, dachte er. Ein
herrliches Leben wird jetzt beginnen. Statt der einförmigen Alltagsplage mit dem
ewigen Hin und Her zwischen Küste und Fischkuttern hat unser Leben jetzt einen
tieferen Sinn! Wir vermögen uns aus unserer Unwissenheit zu erheben, dürfen uns
als höhere Wesen von Können und Intelligenz verstehen. Wir werden frei sein! Der
Höhenflug ist erlernbar! Die kommenden Jahre lockten und glühten voller
Verheißung. Als er landete, hockten die Möwen bei einer Ratsversammlung
beisammen, die offenbar schon lange andauerte. In der Tat, sie hatten auf etwas
gewartet. »Möwe Jonathan, komm in die Mitte!« Der Älteste sprach die Worte sehr
zeremoniell. In die Mitte kommen, das bedeutete entweder die größte Schande oder
die größte Auszeichnung. Man ehrte so die obersten Anführer der Möwen.
Natürlich, dachte Jonathan, der Schwarm heute Morgen – sie haben den großen
Durchbruch mit angesehen. Aber ich brauche keine Ehrung. Ich will kein Führer
werden. Ich möchte sie nur teilhaben lassen an dem, was ich entdeckt habe,
möchte ihnen zeigen, welch neue Horizonte sich für uns alle eröffnen."
[...]
"An die tausend Jahre sind wir nur mühselig
hinter Fischabfällen her gewesen, jetzt aber hat unser Leben einen neuen Inhalt
bekommen – zu lernen, zu forschen, frei zu sein!"
[...]
"[…] [Es bedrückte Jonathan], dass die
anderen Möwen die Herrlichkeit des Fliegens nicht erleben konnten, dass sie sich
weigerten, die Augen aufzumachen, zu sehen. Täglich wurden seine Fähigkeiten
vollkommener. Er lernte, im Sturzflug in Stromlinienhaltung weit genug ins
Wasser einzutauchen, um die seltenen, wohlschmeckenden Fische** zu erlangen, die
in Schwärmen unter der Oberfläche des Ozeans dahinzogen. Er brauchte keine
Fischkutter und kein altbackenes Brot mehr zum Leben."
[...]
"Mit Hilfe des [...] inneren Richtungssinnes
durchstieß er die schweren Seenebel und stieg über sie hinaus in blendend lichte
Höhen auf … indes die anderen Möwen zur selben Zeit auf dem Boden hockend nichts
als Nebel und Regen kannten. Er lernte, auf Hochwinden weit ins Land hinein zu
schweben, um dort köstliche Insekten** zu verspeisen."
* „Erst kommt das Fressen, dann kommt die
Moral [hier die Forschungsfreiheit].“ (Bert Brecht)
** Anwendungen (nützliche Abfallprodukte der Forschung)