Mathematik

Wolfgang Pauli
(1900-1958)

und

Psychologie
Carl Gustav Jung
(1875-1961)

 II

ein Text als Beispiel oder aber als Erzählung

(vgl. auch Mathematik und Psychologie)

"[...] im Jahre 1918 [...] legte Russell eine populäre Fassung [seiner ebenso berühmten wie abstrakten] Antinomie [= unvereinbarer Widerspruch] vor (er ordnete sie einer anonymen Quelle zu). Sie lautet folgendermaßen. Der Dorfbarbier ist definiert als derjenige Dorfbewohner, der genau diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert der Dorfbarbier sich selbst? Nehmen wir an, er rasiert sich nicht selbst. Dann rasiert ihn per definitionem der Dorfbarbier. Also rasiert er sich doch selbst. Also rasiert ihn, wiederum streng nach Definition, nicht der Dorfbarbier. Also rasiert er sich nicht selbst ...
Die Russell'sche Antinomie, die in dieser Verkleidung wie ein eher belangloses persönliches Problem des Dorfbarbiers anmutet - er könnte ja einen Vollbart tragen, oder es gäbe eben keinen Barbier im Dorf -, erwies sich [für die weitere Mathematik] als verheerend, denn sie betraf den Begriff der Menge selbst. Daraufhin begann in der mathematischen Welt eine wahre Jagd auf Paradoxien, mit bald reicher Beute."

(zitiert nach: )

Anhand dieser kleinen Anekdote ist mir wieder mal siedend heiß klar geworden, dass andere Menschen (Nicht-MathematikerInnen) schlichtweg ganz anders "funktionieren":

Zwischen MathematikerInneN und NichtmathematikerInneN liegen Welten!

(Z.B. ist ja auch für eineN richtigeN MathematikerIn die Frage nach Anwendbarkeit schon schlichtweg falsch gestellt.)

Ich hatte einem Freund die Russels Geschichte nur halb und vereinfacht (verfälschend?) vorgelegt:

"Ein Dorfbarbier rasiert alle, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert der Dorfbarbier sich selbst?"

Das (gar nicht so) Merkwürdige war nun, dass der Freund keineswegs "solch einen [konstruierten] Scheiß" brüsk ablehnte, sondern im Gegenteil "voll drauf abfuhr", nämlich so etwa sinngemäß (hier verkürzt) antwortete:

"Dann rasiert sich der Barbier nach Feierabend selbst."

... wobei ich mich frage, ob der Freund das Paradox überhaupt erkannt hat. Ich könnte mir nämlich durchaus auch vorstellen, dass er sich gedacht hat:

"Wenn ein Mathematiker schon so blöd fragt [nämlich, ob der Barbier sich selbst rasiert], ist das sicherlich eine Suggestivfrage [von der fertigen Lösung aus gedacht], nämlich mit der Antwort: »natürlich rasiert sich der Barbier nicht selbst«."

Die Antwort des Freundes kam so spontan, dass er (wenn er, wie sich später bestätigte, das klassische Paradox nicht schon kannte) eigentlich kaum Zeit gehabt haben kann, beide Möglichkeiten (der Barbier rasiert sich [nicht]) ad absurdum zu führen.

Zudem setzt die Antwort des Freundes ja voraus, dass der Barbier sich nicht rasiert - aber eben nicht während seiner Dienstzeit.

(Solche Überlegungen, was eine Aufgabe schon suggeriert und warum auf sie wie geantwortet wird, scheinen mir für den Mathematikunterricht extrem wichtig. Dabei sind solche Überlegungen sicherlich - wie hier - meist fiktiv: ich habe mit dem Freund nicht drüber geredet, wie er "drauf gekommen" ist. Aber solche fiktiven Überlegungen halten einen "sensibel".)

Man könnte meinen, die Antwort des Freundes sei einfach nur salomonisch bzw. bauernschlau, also ironisch: sie hebelt eine typisch mathematische, also "saudumme" Frage auf völlig unerwartete Art und Weise aus. So gesehen hat der Freund das logische Problem vielleicht durchaus geahnt, sich aber gesagt:

"Ich lasse mich doch nicht reinlegen und auch gar nicht erst auf langwierige Überlegungen ein, an deren Ende ja doch nur meine [typisch mathematische!?] Beschämung stehen wird, sondern drehe den Spieß einfach um, indem ich zeige, dass es zur Lösung des Problems einen hübsch kurzen Seitenweg gibt."

(Das ist ja in der Aufgabe geradezu angelegt: sie wird doch überhaupt nur erzählt, weil sie in logische Schwulitäten führt. Vgl. etwa das Geburtstagsproblem

[wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei auf einer Party Anwesende am selben Tag Geburtstag haben?],

das ja auch nur erzählt wird, weil uns alle unsere Intuition da trügt. Was nur viele Schlaumeier ex posteriori vergessen: dass sie selbst sich da auch mal vertan haben. Das arrogante Gelächter über Laien, die dann auch darauf reinfallen, hat etwas dünkelhaft Schmieriges an sich: man ist heilfroh, diesmal nicht [mehr] selbst der Gelackmeierte zu sein. Um nun aber nicht allzu moralisch zu werden: das meiste Lachen ist "dreckig" - aus Erleichterung.)

Wie aber ein anschließendes Gespräch mit dem Freund

(der nebenbei eine Freundin war)

zeigte, lag Ironie gar nicht in seiner Absicht. Vielmehr hatte er die Barbiergeschichte, die (von Russel bzw. mir) nur als Veranschaulichung für ein mathematisch-logisches Problem erzählt wurde, wirklich als Geschichte im Sinne von "Erzählung" aufgefasst, also so etwa nach dem Motto (was ja mit dem altertümlichen Begriff "Barbier" schon angelegt ist!)

"Es war einmal vor langer, langer Zeit (als die Welt noch in Ordnung war) ein Barbier, der in einem wunderschön verschlafenen Städtchen (hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen) namens Dingenskirchen lebte. Und wie er so tagein, tagaus frohgemut vor sich hinrasierte, kam eines Tages eine wunderschöne Fee ..."

Und solch ein leibhaftig vorgestellter Barbier, in den sich vielleicht auch noch ein wenig

reinmischt, hat nichts am Hut mit logischen Problemen. Bei ihm ist es eben kein Widerspruch, dass er

D.h. aber doch:

der Freund "rezipierte" die Geschichte auf einer ganz anderen, nichtmathematischen Ebene, nämlich eben nicht als Beispiel ("für"), sondern als Erzählung (um ihrer selbst willen).

Damit aber sind die fast unüberbrückbaren Missverständnisse vorprogrammiert, was u.a. typischerweise dadurch bedingt ist, dass beide Seiten ja dasselbe Vokabular (dieselbe Geschichte) benutzen und daher gar nicht merken, dass sie von völlig Unterschiedlichem reden.

Und schnell herrscht eine Atmosphäre unausgesprochener Unterstellungen:

Dem "Nichtmathematiker" ist es völlig wesensfremd, einen Barbier durch eine einzige Eigenschaft zu definieren

(vgl. Russels in Geschichte "Der Dorfbarbier ist definiert als derjenige Dorfbewohner, der genau diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selbst rasieren."
Noch mathematischer bzw. geradezu göttlich anmaßend bzw. herablassend wäre nebenbei: "sei definiert": "Es werde Licht - und es ward Licht".)

Ja, unserem Nichtmathematiker erscheint es geradezu als perverse Kastration (bzw. er käme nie selbst auf den Gedanken), einen Menschen auf nur eine Eigenschaft festlegen zu wollen.

Es ist ja sogar noch schlimmer: der Barbier wird nicht nur auf eine Eigenschaft zurechtgestutzt, sondern - darin liegt ja gerade der Gag der Geschichte - nicht mal diese eine Eigenschaft ist eindeutig, d.h. er wird sogar durch seine letzte Eigenschaft endgültig abgeschafft: er rasiert sich und rasiert sich nicht, er tut also gar nichts mehr und wird sozusagen in die Luft gesprengt.

Das Paradox hat ja schon MathematikerInnen enorm verstört - wie sehr aber erst Menschen, die hier eine Lebensgeschichte raushören.

Das Problem scheint mir insbesondere darin zu liegen, dass der (zumindest aus mathematischer Sicht) Laie bzw. Anfänger

  1. nicht wörtlich genug nehmen kann und paradoxerweise
  2. allzu wörtlich nimmt:

Zu 1., also "nicht wörtlich genug":

Er kann nicht akzeptieren, dass der Barbier wirklich nur dadurch bzw. zu dem Zwecke definiert ist (völlig darin aufgeht), all jene zu rasieren, die sich nicht selbst rasieren.

Zu 2., also "allzu wörtlich":

Er kann nicht akzeptieren, dass es überhaupt nicht um einen Barbier geht, sondern es genauso gut ein Zahnarzt sein könnte, der all jenen die Zähne zieht, die sie sich nicht selbst ziehen.

(Manchmal erscheint es mir da als Lösung, mit den SchülerInneN zusammen bewusst [und notfalls ironisch] die Marginalien auszutauschen, um das eigentlich Wichtige, aber auch die lockere [zynische?] Verwendung von Wirklichkeitsfragmenten durch die Mathematik herauszuarbeiten.)

Unser Mathematiker hingegen fühlt sich - wenn er Lehrer ist - an merkwürdige Situationen im Unterricht erinnert:

(um den SchülerInneN nur ja ein anschauliches und merkbares Beispiel zu liefern)

die Zuordnung "Schüler → Schuhgröße" als Beispiel einer (eindeutigen) Funktion und die umgekehrte Zuordnung "Schuhgröße → Schüler" als Beispiel für eine Nicht-Funktion, da kommt doch garantiert so ein Schlaumeier bzw. "Korinthenkacker" und gräbt den höchst extrem-seltenen Fall aus, dass jemand (z.B. aufgrund eines Unfalls) unterschiedlich große Füße und damit zwei verschiedene Schuhgrößen hat;
oder genauer: er reitet nach genauerer, ja gar nicht so uninteressanter Betrachtung dieses Falls noch stundenlang weiter darauf rum;
(ein ganz anderer, durchaus interessanter Fall liegt allerdings vor, wenn einE SchülerIn - aus welchem Grund auch immer - tatsächlich zwei verschiedene Schuhgrößen hat, sie bzw. er also durch den Ausschluss "gebrandmarkt" wird; man "fischt" dann mittels eines mathematischen Beispiels in einer echten Lebensgeschichte; sowas passiert im Unterricht sehr häufig, wenn auch meist versehentlich: man merkt ja nicht mal, wem man weh getan hat [SchülerInnen schweigen aus Betroffenheit], sollte die Möglichkeit aber doch - soweit möglich - vorweg bedenken)

(auch wieder aus dem ehrenwerten Grund bzw. dem verzweifelten Bemühen, anschaulich zu sein)

den Unterschied zwischen Substantiv (Eigenschaft) und Subjekt (Funktion im Kontext) dadurch erklären, dass jemand eindeutig männlich oder weiblich ist (Eigenschaft), aber z.B. je nach Anlass JugendgruppenleiterIn oder SchülerIn (Funktion) sein kann, da hackt doch garantiert jemand stundenlang auf irgendwelchen Transsexuellen rum.

Nun geht es mir hier allerdings natürlich nicht darum, über SchülerInnen zu klagen ("die Jugend von heute; schnief!"), sondern meine Frage ist eher, warum sie

(bzw. einige; und sicherlich nicht die dümmsten!)

das tun

(wenn man mal von - höchst seltenem - bösem Willen absieht).

Einer der Hauptgründe scheint mir darin zu liegen, dass die meisten mathematischen Beispiele

(auch das des Barbiers!; bzw. zumindest heutzutage)

an den Haaren herbeigezogen sind, aber doch immer dreist "lebensnah" genannt werden. SchülerInnen, die sie zerfetzen, bestehen also indirekt auf wirklicher Lebensnähe, d.h. dem Leben selbst.

(O.g. Freund war sofort viel "einsichtiger", als ich ihm nachträglich erklärte, wofür der Barbier ein Beispiel war, nämlich für eine ansonsten kaum anschaulich zu vermittelnde, höchst anspruchsvolle mathematische Frage.)

(und zwar aus dem durchaus guten und wichtigen Grund, sich z.B. im Deutschunterricht eine literarische Geschichte überhaupt erst anzueignen).

Und wenn man solche SchülerInnen nicht (sicherlich ungern, aber eben doch auch unter Stoffdruck) stoppt, erzählen sie bis zum Sanktnimmerleinstag und ist jedeR beleidigt, der nicht drankommt.

Inzwischen kann man sich allerdings auch fragen, ob ich mit meiner verkürzten Geschichtsversion nicht einen Fehler gemacht, nämlich selbst für das (nur mich dann überraschende) Ergebnis gesorgt habe:

"Der Dorfbarbier ist definiert als derjenige Dorfbewohner, der genau diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selbst rasieren."

meine Version

"Ein Dorfbarbier rasiert alle, die sich nicht selbst rasieren."

gemacht. Ein Grund dafür war sicherlich, dass ich das berühmte Beispiel nur aus dem Gedächtnis zitierte. Aber sicherlich wollte ich mein Gegenüber auch nicht mit mathematischem Fachchinesisch ("definiert als", "genau diejenigen") belästigen bzw. abschrecken. Und sogar die minimale Umformulierung "der/ein" führte in eine Erzählung à la "es war einmal ein ...".

"Die Russell'sche Antinomie, die in dieser Verkleidung wie ein eher belangloses persönliches Problem des Dorfbarbiers anmutet - er könnte ja einen Vollbart tragen, oder es gäbe eben keinen Barbier im Dorf - [...]"

gemacht, und zwar nicht etwa, weil ich nicht wollte, sondern weil ich (selbst schon betriebsblind) gar nicht so "erzählerisch" weit gedacht hatte. Um so überraschender kam dann natürlich für mich, dass der Freund genau in diesem Sinne von sich aus ergänzte bzw. auf dieser Schiene abfuhr.

Vielleicht orten wir MathematiklehrerInnen insbesondere die typischen Schwierigkeiten von Textaufgaben falsch: es sind nicht zu viele (oft sogar irreführende) Informationen drin, sondern SchülerInnen hören da die Grundstruktur einer Erzählung raus, d.h. füllen die Aufgabe noch zusätzlich auf.


Ich halte es im Hinblick auf Mathematikunterricht für extrem wichtig, sich solche Missverständnisse und auch latenten Vorwürfe klar zu machen. Wer (als MathematiklehrerIn) behauptet, bei ihm gebe es sowas nicht, ist überhaupt erst wirklich missverständlich und redet meilenweit an SchülerInneN vorbei.


Fragt sich nur, was die Konsequenz aus all dem sein kann bzw. sollte. Denn ohne Konsequenz (nicht zu verwechseln mit "Patentrezept") bleibt es ja doch wieder nur bei reinen Feststellungen und letztlich dann Klagen stehen ("keiner versteht mich").

Mathematik(lehr)erInnen

(und zwar auch dann, wenn sie - wie ich - gleichzeitig DeutschlehrerInnen sind - und dennoch betriebsblind)

werden

Aber es geht eben nicht an

(und zwar auch und gerade dann nicht, wenn man sich selbstbewusst als InnermathematikerIn versteht),

die mathematischen Beispiele unreflektiert als "lebensnah" auszugeben.

Eine denkbare, ja sogar notwendige Konsequenz daraus ist, dass auch in Klausuren nichtmathematische Antworten möglich und verlangt sind (vgl. offene Klausuren).

Es sei hier an die Aufgabe

„26 Schafe und 10 Ziegen sind auf einem Schiff, wie alt ist der Kapitän?"

erinnert, die ja überhaupt nur dazu diente zu zeigen, wie dämlich viele "Anwendungsaufgaben" sind

(vgl. auch „Ein Engländer durchschwimmt den ärmelkanal in sechzehn Stunden vierunddreißig Minuten und legt dabei achtundvierzig Kilometer zurück. Wieviel Zeit würde er brauchen, um von Dresden zum Nordpol zu schwimmen?"
"Mama, ich will nicht nach Amerika. - Sei ruhig und schwimm weiter"),

dass SchülerInnen aber auch  jeden Schwachsinn "dem Lehrer zuliebe" mitmachen (weil alle Aufgaben auf sie so dämlich wirken?).

Die Antwort einiger SchülerInnen, nämlich

26 Schafe + 10 Ziegen = 36 Jahre

beweist natürlich nur, was man schon vorher wusste bzw. durch die Aufgabenstellung provoziert hat, nämlich eben die Dämlichkeit (vieler Matheaufgaben, nicht der SchülerInnen).

Die Antwort eines Schülers aber, nämlich

Gute Freunde haben dem Kapitän, der auch Tierliebhaber ist, für jedes Lebensjahr ein Tier geschenkt. Also ist der Kapitän 36 Jahre alt.

halte ich aber für durchaus pfiffig (weil sie die ansatzweise Erzählung aufnimmt und weitererzählt): da wird dem "Sowieso"-Schwachsinn doch noch (ironisch?) Sinn abgewonnen.

All das heißt ja keineswegs, die Mathematik zugunsten von allgemeinem "Blabla" aufzuweichen

(denn es gibt ja MathematikerInnen, die alles für "Blabla" halten, was nicht Mathematik ist).

Natürlich bleiben die Forderungen, die sich aus der Mathematik ergeben, bestehen. Sie werden "nur" ergänzt.