Der folgende Text basiert auf einem Unterrichtsvorschlag zum Thema
Einführung in das Hypothesentesten für SchülerInnen anhand von 7 Schritten
Mein Text hier und Herrn Drexlers Unterrichtsvorschlag haben sich aneinander weiterentwickelt. Weil gerade solch ein kommunikativer Prozess so wichtig ist, werde ich hier teilweise auch auf Herrn Drexlers Erstversion eingehen, davon aber jeweils die Folgeversion absetzen.
Die geplante Unterrichtseinheit ist so positioniert, dass sie relativ früh steht und nicht erst - wie meist üblich - fast am Ende der Stochastik.
An eine ideale Einstiegsaufgabe wären eine ganze Reihe von Forderungen zu stellen:
die Aufgabe sollte (am besten sogar: besonders) geeignet sein, das mathematische Ziel (Hypothesentest) zu erreichen, d.h. die Aufgabe muss mittels Hypothesentest "lösbar" sein;
die Aufgabe sollte das - noch gar nicht mathematisierte - Testen von Hypothesen wünschenswert erscheinen lassen, d.h. ein in der Tat offenes und am besten sogar umstrittenes Problem enthalten;
es wäre schön, wenn die Aufgabe anfangs sehr "unmathematisch" daher käme und sich der Mathematisierungswunsch erst langsam ergäbe
(was natürlich in gewissem Sinne Fiktion bleibt, da alle ja schon vorher wissen, dass im Mathematikunterricht Mathematik kommen wird);
der Hypothesentest sollte am Ende im Hinblick auf die Anfangsaufgabe einen echten Erkenntnisgewinn erbringen, der ohne ihn nicht erreichbar wäre
(oftmals wird am Ende ja vor lauter Mathematik vergessen, welche Bedeutung das Ergebnis eigentlich im Hinblick auf das anschauliche Anfangsproblem hat, das demnach nur Aufhänger war);
die Aufgabe sollte "lebensnah" sein bzw. dem Interesse möglichst vieler SchülerInnen entgegen kommen;
obwohl die Aufgabe zu einem wohldefinierten mathematischen Zweck (hier: Einführung des Hypothesentests) gestellt wird, sollte sie dennoch nicht "eingekleidet", d.h. schon komplett vom anvisierten mathematischen Thema aus gedacht sein.
Die erste Frage aus der Unterrichtseinheit "Hypothesentests", nämlich
"Gibt es Menschen mit übersinnlichen bzw. extrasensorischen Fähigkeiten, z.B. Wahrsagerinnen?",
scheint mir aus mehreren Gründen sehr geeignet als Einstiegsaufgabe:
Die Aufgabe nimmt einen boomenden allgemeingesellschaftlichen Trend zu außersinnlichen und "esoterischen" Themen auf, den wahrzunehmen und vorurteilslos (auch auf seine Ursachen hin) zu untersuchen sich lohnt, ja gerade in Schulen unumgänglich ist.
Naturwissenschaften und Mathematik sind ganz besonders aufgerufen, sich vorurteilslos diesem Trend zu stellen, denn vielleicht kann man ihn gerade als Ausweichen, wenn nicht gar Flucht vor einer (einseitigen?) naturwissenschaftlich-mathematischen Welterklärung verstehen.
(Mir scheint sogar, Naturwissenschaft und Mathematik könnten eine Teilantwort auf den Esoteriktrend sein, wenn sie deutlicher als bisher
darstellen würden, dass die Natur durch Erklärungsmodelle nur um so staunenswerter wird,
von der betonierten Sicherheit der Newtonschen Physik und der Wahr-/Falsch-Logik abkämen.
"Aufgabe" der Naturwissenschaften/Mathematik ist es weniger [oder gar nicht], "Esoterik" zu widerlegen, als vielmehr, ihre eigene Schönheit dagegen oder besser noch parallel zu stellen.)
Meiner Erfahrung nach sind Klassen über das Thema übersinnliche Wahrnehmungen/Esoterik äußerst zerstritten
(wobei hier mal von einer genaueren Definition und Differenzierung über-/außersinnlicher Phänomene abgesehen sei):
Da gibt es einerseits die (zumindest latenten) Anhänger übersinnlicher Effekte (insbesondere der Astrologie), andererseits rabiate Ablehner solcher Themen - und fast nichts dazwischen. Daraus folgt zweierlei:
Die Situation ist wirklich offen und verlangt nach Klärung (u.a. durch Mathematik).
Das Thema ist durchaus sensibel, d.h. schnell mit Verletzungen von Überzeugungen und damit sogar der innersten Persönlichkeit verbunden.
Vielleicht kann aber gerade Mathematik da für Sachlichkeit ohne Verletzungen und für fairen Umgang miteinander sorgen, und zwar deshalb, weil die Stochastik bei aller partiellen Aussagekraft eben keine gesicherten Aussagen machen kann.
Die Anfangssituation sollte wirklich offen sein, und zwar auch bei der Lehrkraft! Es wäre grundfalsch (und auch unstochastisch gedacht), wenn das Ziel der Unterrichtseinheit darin bestünde, den SchülerInnen zu "beweisen", dass außersinnliche Wahrnehmungen "Mumpitz" sind (solch einen Unterton hören SchülerInnen sofort heraus).
Hier sei leise angefragt, ob das der Fall ist, wenn die Aufgabe folgendermaßen gestellt wird:
"Begründe Deine Position schriftlich so spontan wie möglich. Nach den sieben Schritten des statistischen Hypothesentestens kannst Du Deine Überlegungen mit unserem Ergebnis vergleichen. Es wird Dich teilweise überraschen. Wenn nicht, wäre ich überrascht."
(Inzwischen umformuliert in:
"[...] Es wird Dich teilweise überraschen, weil Du bei diesem Beispiel nicht nur etwas über Hellseherei erfährst, sondern die Grenzen und Möglichkeiten einer wissenschaftlich-statistischen »Beweisführung« kennenlernst."
Nun ist es zwar nachgerade schon unfair und auch übertrieben, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Aber das Problem in dieser verbesserten Version besteht natürlich in den Anführungszeichen um "Beweisführung": da wird einerseits - auch mittels "Grenzen und Möglichkeiten" - der Anspruch zurückgeschraubt, andererseits geht das aber vielleicht schon allzu weit, weil die Anführungszeichen auch eine Ironisierung meinen können, sich "Beweisführung" also nach "Pseudo-Beweisführung" anhört.)
Mit dem "Es wird Dich teilweise überraschen. Wenn nicht, wäre ich überrascht." in der ursprünglichen Version wurde aber doch von Anfang an nahegelegt, dass die Intuition falsch sein wird.
Unabdingbare Voraussetzung bei einer Lehrkraft, die ansonsten mit diesem Thema wenig anfangen kann (wozu wir MathematiklehrerInnen vermutlich fast alle neigen), wäre ein gewisser "Agnostizismus":
Wohlgemerkt: "nicht erkannt" bedeutet nicht "nicht existent".
(Laut Kant ist die Existenz Gottes weder beweisbar noch widerlegbar.)
"Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube."
Es ist nicht auszuschließen, dass es bislang noch unbekannte (naturwissenschaftlich nicht nachweisbare und erklärbare) Kräfte gibt - etwa so, wie bis zum 17. Jahrhundert die Gravitation unbekannt war und auch heute noch nicht wirklich verstanden ist oder heute in der fortgeschrittensten Physik von einer "dunklen" Materie und Energie die Rede ist.
Günstig wäre es sogar, wenn die Lehrkraft mal selbst Andeutungen von außersinnlichen Wahrnehmungen erlebt (z.B. Wünschelrutengänger) oder von vertrauenswürdigen Menschen berichtet bekommen hätte (z.B. Synchronizitätserlebnisse), also zumindest mal Anlass zum Zweifel an ihrer ansonsten ablehnend-ungläubigen Einstellung gehabt hätte.
Die Lehrkraft muss den "advocatus diaboli" spielen, d.h. wenn irgend möglich durch geeignete Beispiele beide o.g. "verfeindeten" Gruppen irritieren.
Empfehlenswerte Lektüre, weil weitgehend unvoreingenommen und auch für "Ungläubige" zugänglich (was auf dem Esoterikmarkt höchst selten ist):
Jörg Wichmann: Die Renaissance der Esoterik; Kreuz-Verlag vgl.: Esoterik (griechisch esoteros: innerer), Bezeichnung für heiliges Wissen und Kultpraktiken, die für einen exklusiven Kreis Eingeweihter vorbehalten sind. Diese Bedeutung von „Esoterik” wurde vom Komparativ des griechischen Wortes eso, eiso: drinnen, innerhalb abgeleitet. Sie ist zwar noch Begriffsgrundlage für (religions-)wissenschaftliche Studien; in Massenmedien und Umgangssprache ist Esoterik in den letzten Jahrzehnten allerdings zum Oberbegriff für spirituelle Aufbrüche in der Gegenwart geworden. Dieser umspannt nunmehr höchst unterschiedliche Rückbesinnungen auf das „Urwissen der Menschheit” und Neubelebungen sowohl okkulter Praktiken wie Astrologie, Magie, Außersinnliche Wahrnehmung u. a. als auch ost-westlicher Spiritualität und Mystik im weitesten Sinn wie u. a. Meditation, östliche Religionen, Theosophie, indianische Religiosität. (Microsoft Encarta Professional 2002) | |
Antoine Faivre: Esoterik im Überblick; Geheime Geschichte des abendländischen Denkens; Herder |
Und nebenbei ist auch das Internet randvoll mit teilweise durchaus seriösen Überlegungen zu übersinnlicher Wahrnehmung. Nur einige wenige Beispiele:
Die Aufgabe wirklich als offen ernst nehmen hieße auch, anfangs ganz offen nach Antworten zu suchen, d.h.
nach eigenen, bereits vorhandenen Antworten und Erfahrungen der SchülerInnen
(wozu ein vertrauensvolles Unterrichtsgespräch initiiert werden müsste; bemerkenswert dabei scheint mir meiner Erfahrung nach allerdings, dass die allermeisten "außersinnlichen" Erlebnisse, von denen dann die Rede ist, nicht selbst erlebt wurden, sondern nur vom Hörensagen bekannt sind),
Begriffsdefinitionen (Lexika),
Recherche nach Erfahrungen und Forschungen anderer (Interviews, Bücher, Internet ...).
Und daraus erst sollte sich der Wunsch nach einer Mathematisierung ergeben.
Im Unterrichtsvorschlag zu "Hypothesentests" wird folgende fiktive Situation vorgeschlagen:
Die Ausgangssituation: eine (vermeintliche oder wirkliche, was ja eben erst zu überprüfen ist) Wahrsagerin soll sagen, welche Ergebnisse (Kopf oder Zahl) sich beim Werfen einer Münze hinter einem Vorhang ergeben.
(Offensichtlich ist folgendes gemeint: die Wahrsagerin nennt ihre Vermutung immer, nachdem die Münze bereits geworfen wurde, die sie allerdings wegen des Vorhangs nicht sehen kann.)
1. Versuch: sie sagt vier von vier Mal das richtige Ergebnis;
2. Versuch: sie sagt zehn von zehn Mal das richtige Ergebnis;
3. Versuch: sie sagt 99 von 100 Mal das richtige Ergebnis.
Mein erster Vorschlag wäre, den "Versuchsaufbau" ein wenig zu verändern, damit frühzeitig die meisten (nicht alle) Mogelmöglichkeiten ausgeräumt werden: die "Wahrsagerin" muss das Ergebnis immer nennen, bevor die Münze geworfen wird. Vgl. auch
Wahrsager "jemand, der mit Hilfe bestimmter Praktiken Vorher[!]sagen macht"
© Meyers Lexikonverlag(Herr Drexler hat diesen Vorschlag mit einigen guten Gründen nicht übernommen, ihn aber doch am Ende bedacht:
"Ein weitaus schwieriges parapsychologisches Experiment wäre es gewesen, Frau Schwertfeger in die Zukunft schauen zu lassen: Sie zu bitten, vor einem Münzwurf vorherzusagen, ob Kopf oder Zahl oben liegt. Hier scheinen jedoch parapsychologisch tätige Menschen genauso wie die Wissenschaft diesselben Probleme zu haben: Die Zukunft ist im Grunde ungewiß und nicht vorhersagbar. Hier werden von WissenschaftlerInnen und WahrsagerInnen ständig sehr viele Voraussagen gemacht, die nicht eintreffen."
Das scheint mir - mit Verlaub - eine sehr verkürzte Antwort, wenn da definitiv gesagt wird: "Die Zukunft ist im Grunde ungewiß und nicht vorhersagbar." Die Frage wäre ja vielmehr, ob es nicht eben doch Menschen gibt [ganz normale "WissenschaftlerInnen und WahrsagerInnen"], die nicht nur Zukunftsvoraussagen abgeben, sondern das auch tatsächlich mit einer gewissen Autorität können. Dass "[...] ständig sehr viele Voraussagen gemacht [werden], die nicht eintreffen [...]" beweist ja gerade nicht, dass es überhaupt keine Wahrsagerei gibt.)
Nun könnte man - und das scheint mir eine geradezu typisch mathematische Schlussweise zu sein - aus zumindest bei 10 und 100 Würfen allemal außergewöhnlichen Ergebnissen hinterher durchaus mathematisch korrekt wie in Herrn Drexlers Erstversion folgern:
"Wir können nur nicht ausschließen bzw. falsifizieren, daß Frau Schwertfeger übersinnliche Fähigkeiten hat. Das Ergebnis selbst läßt viele Interpretationen zu. Eine davon könnte sein, daß sie mit Hilfe besonders raffiniert angebrachter Spiegel solche gute Ergebnisse erzielt."
(einen Verdacht, den Herr Drexler in der zweiten Version so weglässt bzw. nur mit einem Uri-Geller-Vergleich andeutet:
"Beispiel als Beleg für berechtigtes Mißtrauen: Die magischen Hände des berühmten Magiers Uri Heller, der mit seinen Fingern Metallgegenstände wie Messer und Gabeln auf phantastische Weise verbiegen konnte und dies viele Male einem staunenden weltweiten Publikum vorgeführt hat. Es hat lange gedauert bis man ihm nachweisen konnte, daß die Verformungen auf eine unsichtbare Paste auf den Händen zurückgeführen waren.")
Mir scheint aber, dass da
(Wir [inkl. ich selbst] MathematiklehrerInnen neigen - von unseren [Un-]Glaubenssätzen und der Mathematik aus - alle dazu.)
Mogelversuche sollten also (u.a. durch o.g. änderung des Versuchsaufbaus) von Anfang an weitestmöglich ausgeschlossen sein, ja mehr noch: es sollte ausdrücklich vorausgesetzt werden, dass die "Wahrsagerin" vielleicht durch puren Zufall (immerhin dem Vergleichspunkt!) enormes Glück hat, aber nicht mogelt
(wobei ja durchaus vorher durchgenommen werden kann, dass und welche Mogelmöglichkeiten es tatsächlich gibt; vgl. eben Uri Geller; man beachte aber, dass solche "schwarzen Schafe" zwar immer möglich sind, aber - nicht nur in den Augen von Anhängern übersinnlicher Wahrnehmungen - selbstverständlich noch lange nicht die Möglichkeiten "seriöser" Wahrsager in Frage stellen.)
Es gibt gute Gründe für den fiktiven "Versuchsaufbau" mit der Wahrsagerin:
Dennoch haben fiktive Aufgaben natürlich auch Nachteile:
sie sind schnell doch nur "eingekleidete" Aufgaben.
Es sei kurz angemerkt, dass Herr Drexler ein Parallelbeispiel zum Thema "Hypothesentests" erarbeitet hat, und zwar nicht mehr zum fiktiven Thema "Wahrsagerei", sondern zum ganz realen Thema "Bittere Pillen - die Wirksamkeit von Medikamenten", wobei viele der hier dargestellten "psychologischen" Probleme gar nicht erst aufkommen.
Bei der vorliegenden Wahrsageraufgabe kann man die Psychologie bzw. den "gesunden Menschenverstand" keineswegs außen vor lassen. Die Irritation durch 99/100 ist ja geradezu beabsichtigt, d.h. da wird ein "Vor-Urteil" hervorgekitzelt - nur um es hinterher zu widerlegen?
Außerdem ist subjektive Wahrscheinlichkeit ja nicht einfach Blödsinn, sondern hat ihre guten Gründe.
Man muss sich die Psychologie des Experiments genau klar machen, und zwar am besten durch die Vorstellung, eine Frau würde tatsächlich (und ohne Mogelmöglichkeit) 99 von 100 Mal richtig "raten": JedeR von uns wäre erst mal bass erstaunt, und erst dann würden (u.a. mathematisch begründete) Zweifel auftauchen.
(Vgl. literarische Metaphern: sie können noch so "gewagt" sein [z.B. Paul Celans "schwarze Milch"], wir glauben sie [alles] erst mal, stellen sie uns vor - und sagen erst dann im zweiten Schritt: "aber das geht doch gar nicht, ist unrealistisch, unlogisch usw." Aber wir sind erst mal drauf "reingefallen".)
Die Umgangssprache - und das könnte durchaus Einstieg sein - hat für solche realen Phänomene sehr schöne Begriffe: "sie hat irrwitziges Glück gehabt" (was ja noch immer Glück, also Zufall unterstellt) oder "das ist zu schön, um wahr zu sein".
Der Vorteil, dass sich in der Fiktion problemlos ein solch herausforderndes Beispiel wie 99/100 herstellen lässt, kann sich psychologisch auch zum größten Nachteil auswachsen: Egal, was rechnerisch rauskommt, hinter dieses allemal erstaunliche (und doch eventuell nur zufällige) 99/100-Ereignis ist nicht mehr zurück zu kommen. Der Effekt - zumindest bei anfangs "gläubigen" SchülerInnen - wird auch hinterher sein:
"egal, wie die Lehrkraft das mathematische Ergebnis hinterher interpretiert, schon allein durch den 99/100-Versuch hat sie die Existenz von Hellseherei bewiesen bzw. vorausgesetzt."
Und umgekehrt können die "ungläubigen" SchülerInnen immer sagen:
"das Beispiel legt zwar Wahnsagerei nahe, aber es war ja auch von Anfang an fiktiv bzw. konstruiert."
Selbstverständlich muss eine Bewertung wie
"Ja, wir müssen [schließen, dass Frau Schwertfeger wahrsagen kann]! Frau Schwertfeger hat eindeutig bewiesen, daß sie wahrsagen kann. Sie hat erstaunliche Fähigkeiten. Eine davon ist, verdeckte Dinge zu erkennen."
abgelehnt werden.
Die abschließende (nochmals: mathematisch durchaus korrekte!) Feststellung in Herrn Drexlers Erstversion lautete:
"Wir können nur nicht ausschließen bzw. falsifizieren, daß Frau Schwertfeger übersinnliche Fähigkeiten hat."
(inzwischen ersetzt durch
"Erkenntnistheoretisch gesehen gibt es keine eindeutigen Beweise für nur eine Interpretation von Daten bzw. Ergebnissen. Was wir jedoch eindeutig sagen können, ist, daß die von Frau Schwertfeger erreichten Ergebnisse sehr unwahrscheinlich auf Zufall zurückzuführen sind. Das Restrisiko, sich doch noch zu irren, ist dabei von uns als so gering angesehen worden, daß es kleiner als das von uns festgelegte Signifikanzniveau ist. Wer sich deshalb anhand der vorliegenden Ergebnisse aufgrund seiner eigenen Festlegungen
- dafür entscheidet, daß Frau Schwertfeger übersinnliche Fähigkeiten hat
- bereit ist, diese Auffassung unter bestimmten Umständen wieder aufzugeben, wenn gegenteilige Ergebnisse vorliegen,
- andere Interpretationen als die seinige nicht ausschließt
handelt mit guten Gründen völlig im Einklang mit der wissenschaftlichen Vorgehensweise. Dabei ist jedoch ein "caveat" besonders zu beachten. Hütet Euch vor allem vor Menschen, die anhand von Daten bzw. Ergebnissen etwas eindeutig beweisen und so nur eine Interpretation der Daten zulassen und Euch z.B. damit überzeugen wollen, Geld in einer besonders ertragreichen Form anzulegen oder in einer bestimmten Form politisch tätig zu werden.
[...]
Das Ergebnis selbst läßt viele Interpretationen zu. Von daher ist man für die eigene Meinung nicht allein auf die von Frau Schwertfeger oder dem Experimentator selbst vorgetragene Interpretation der Ergebnisse angewiesen. Sie ist jedoch sehr ernst zu nehmen, da wir keine andere Erklärung selbst anbieten können und Frau Schwertfeger sich über das Experiment keine Vorteile verschafft hat.
Als grundsätzlich gegenüber der Hellseherei skeptisch eingestellte Person kann jeder selbstverständlich nach anderen Erklärungen suchen. Eine besonders mißtrauische und eventuell kränkende ist, daß Frau Schwertfeger besonders raffiniert tricksen kann, z.B., daß sie mit Hilfe besonders raffiniert angebrachter Spiegel solch gute Ergebnisse erzielt. Doch bevor man diese neue Hypothese überprüft, muß man ihr gegenüber deutlich machen, daß tiefsitzendes Mißtrauen oft erst auf der Grundlage ganz unterschiedlich angelegter Experimente abgebaut werden kann. Ansonsten gilt: "I see your point, but don't confuse me with the facts." Es darf weder sein, daß Frau Schwertfeger überhaupt keine Chance bekommt, ihre hellseherischen Fähigkeiten bestätigt zu bekommen noch, daß man ihre Interpretation gutgläubig übernehmen muß. So könnte ein Folgeexperiment, das versteckte Spiegel berücksichtigt, darin bestehen, die Münzen an einem weit entfernten Ort zu werfen oder in einem völlig verdunkelten Raum.
Bei unserem Experiment haben wir Frau Schwertfeger gebeten, mit Hilfe ihrer Kristallkugel ein durch einen Vorhang verdecktes Ereignis zu erkennen, das sich schon ereignet hat. Ein weitaus schwieriges parapsychologisches Experiment wäre es gewesen, Frau Schwertfeger in die Zukunft schauen zu lassen: Sie zu bitten, vor einem Münzwurf vorherzusagen, ob Kopf oder Zahl oben liegt. Hier scheinen jedoch parapsychologisch tätige Menschen genauso wie die Wissenschaft diesselben Probleme zu haben: Die Zukunft ist im Grunde ungewiß und nicht vorhersagbar. Hier werden von WissenschaftlerInnen und WahrsagerInnen ständig sehr viele Voraussagen gemacht, die nicht eintreffen." (Siehe hierzu das Forum Parawissenschaften: )Das einzige Problem bei dieser neuen Version scheint mir, dass sie - in einem html-Text naturgemäß - viele Argumente von sich aus angibt. Im konkreten Unterricht wäre zu fragen, wie die SchülerInnen die Argumente möglichst selbst entdeckt können.)
Der ursprüngliche Satz
"Wir können nur nicht ausschließen bzw. falsifizieren, daß Frau Schwertfeger übersinnliche Fähigkeiten hat."
überging nur alle Psychologie und war daher keine echte Rückübersetzung der Mathematik in die anfängliche Anwendungsfrage. Das Problem an dieser Formulierung war, dass sie rein negativ blieb ("nicht ausschließen").
Mein Verbesserungsvorschlag zur Erstversion lautete daher:
"Es weist [nach der zunehmenden Zahl der Treffer] immer mehr darauf hin, dass die Frau tatsächlich hellseherische Fähigkeiten hat. Bewiesen ist es allerdings nicht."
Das gesteht im ersten Teil die Irritation immerhin positiv ein, wenn es auch vorsichtig formuliert ist: "weist darauf hin" - und bleibt im zweiten Teil dennoch skeptisch.
Es wird sogar noch problematischer: Wenn in der mathematischen Phase irgendwann (evtl. willkürlich, ab da aber doch verbindlich) Intervalle festgelegt werden, innerhalb derer man überhaupt zu Aussagen bereit ist, so wird man auch die Konsequenz daraus ziehen, sich also an das selbst erstellte Entscheidungskriterium halten müssen:
"Diese Festlegungen [von alpha] sind jedoch rein willkürlich. Jede Person hat ihr eigenes Sicherheitsbedürfnis je nach Fragestellung und sollte alpha entsprechend ihrer eigenen Wertvorstellung wählen! Wichtig ist zu wissen, daß die Konsequenzen einer Festlegung nicht willkürlich sind. Nachdem wir alpha festgelegt haben, haben wir die Entscheidungsregel für oder gegen H0 festgelegt. Es ist für eine rationale Entscheidung nicht zulässig, nachträglich das alpha so zu ändern, daß das Ergebnis einem passt."
Alles andere würde wieder nur nachgeschoben wirken (s.o.).
Aber auch die von mir genannte Bewertung
"Es weist immer mehr darauf hin, dass die Frau tatsächlich hellseherische Fähigkeiten hat. Bewiesen ist es allerdings nicht."
ist teilweise wieder problematisch: Woher nimmt man den Nachsatz "Bewiesen ist es allerdings nicht?", bzw. wie motiviert man ihn?
SchülerInnen könnten doch mit guten Recht einräumen:
"Was soll die arme Wahrsagerin denn noch alles anstellen, um zu beweisen [oder zumindest: bis man ihr glaubt], dass sie tatsächlich wahrsagen kann? Und wenn sie auch 1000 von 1000 oder Millionen von Millionen Mal richtig vorhersagen würde, Sie [die Lehrkraft] kämen noch immer mit dem nur noch besserwisserischen Rohrkrepiererargument »Bewiesen ist es aber [noch immer] nicht«."
Ein fiktives Beispiel ist ja erst dann halbwegs überzeugend, wenn es zwar nicht real, aber immerhin doch (mit Aristoteles) wahrscheinlich ist: "es könnte tatsächlich so sein".
Die Ausgangssituation, mal real genommen, impliziert aber doch: Die (vermeintliche oder wirkliche) Wahrsagerin soll eine faire Chance haben, d.h. irgendwann muss entschieden werden (wobei die Modalitäten ja verhandelbar sind: Anzahl der Versuche, Trefferhäufigkeit).
Wie bringt man nun aber überzeugend die Frage ein, ob selbst bei voller Trefferquote etwas wirklich schon bewiesen ist?
Das Problem besteht ja nicht nur in den "Gläubigen", sondern auch in den "Ungläubigen": sie können auch nach noch so hoher voller Trefferquote immer noch mit dem Standardargument kommen, es sei rein gar nichts bewiesen.
D.h. aber doch, dass am Ende keiner auch nur einen Millimeter probeweise von seiner anfänglichen Einstellung abgewichen, also auch keiner ans bereitwillig offene Reflektieren gekommen ist.
Und die nur penetrant wiederholte Feststellung, dass letztlich nichts bewiesen sei, kann eben auch banal werden: Natürlich ist durch alle Experimente der Naturwissenschaft kein einziges Naturgesetz bewiesen (beim nächsten Versuch könnte anderes rauskommen - und kommt manchmal auch was anderes raus) - und dennoch sind die Naturgesetze enorm verlässlich und gelten (bis zu ihrer Falsifizierung) zu recht als "bewiesen".
Dennoch ist der Nachsatz "Bewiesen ist allerdings nichts" natürlich enorm wichtig, und zwar nicht nur innermathematisch, sondern auch geradezu als Erziehungsziel und Ideologiekritik.
Wie ihn also vermitteln?
Möglichkeiten im vorliegenden Fall wären:
Man lässt die SchülerInnen dasselbe Experiment selbst durchführen, und es wird sich schnell zeigen: Wenn man z.B. vier Mal (was in einer Klasse durchaus wahrscheinlich ist) richtig "vorher gesagt" hat, wird man nicht automatisch auch beim fünften Mal richtig vorher sagen.
Oder man reflektiert o.g. Versuchsverlauf: Wie kommt es, dass man nach vier richtigen Treffern noch nicht von der Fähigkeit der "Wahrsagerin" überzeugt ist? Oder wie ist das Einmalige "Versagen" der Wahrsagerin bei hundert Versuchen erklärbar? Ab wann - und mit welchen (letztlich immer nur subjektiven) Gründen - ist man bereit, der Frau zu glauben?
Irgendwann wäre auch ausdrücklich zu reflektieren (wenn zumindest "ungläubige" SchülerInnen es nicht sowieso von sich aus einbringen), dass ja die Lehrkraft die Ergebnisse 4/4, 10/10, 99/100 vorgegeben hat - und zu fragen, ob sich solche Ergebnisse denn auch "in freier Wildbahn" möglich wären.
Leider ist eine Klasse ja viel zu klein, um selbst interessante Experimente zu machen. Denn schön wäre es doch, wenn ausgerechnet ein "Ungläubiger" zufällig zehn mal nacheinander richtig raten würde. Jede Wette, auch er würde langsam skeptisch - und die notwendige offene Situation wäre erreicht.
Und dennoch sollte das Experiment auch mal in der Klasse durchgeführt werden, und zwar selbst dann, wenn eben keine erstaunlichen Ergebnisse zustande kommen: um eben ein "Gespür" dafür zu bekommen, wie höchst unwahrscheinlich es ist, 10 oder gar 99 Mal richtig voraus zu sagen (bzw. zu raten). Dann eben erst hat man einen Maßstab für die zu prüfende Wahrsagerin.
Wie kommt es - vor aller Mathematisierung -, dass wir bei vier richtigen Treffern noch keineswegs an Wahrsagefähigkeiten glauben, bei zehn Treffern aber durchaus schon irritiert sind?
(Nun, wir haben Vorerfahrungen aus ähnlichen selbst gespielten Spielen, ja dem Leben selbst.)
Und selbst wenn später die mathematischen Ergebnisse feststehen (z.B., dass die Wahrscheinlichkeit, zehn Mal richtig zu raten, 0,0009766 beträgt), müssen solche abstrakten Ergebnisse zu veranschaulichen versucht werden (es sei denn, durch den Vorunterricht ist schon ein "Gefühl" für solche Werte entstanden).
Besonders interessant sind Aufgaben, die
keineswegs nur mathematisch angehbar sind (sondern interdisziplinär verschiedene, vielleicht sogar einander ergänzende Zugänge ermöglichen),
zu denen die Mathematik aber durchaus Wichtiges (wenn nicht gar Erstaunliches oder gar andere Sichtweisen Korrigierendes) beitragen kann.
Es ist also durchaus einer Überlegung wert, ob o.g. Wahrsageraufgabe nicht auch andere, gleichberechtigte Zugänge als die mathematische ermöglicht bzw. nahelegt - und ob diese zumindest anfangs ernst genommen (wenn nicht gar provoziert) werden müssten, um die Mathematik nicht als alles erschlagendes Patentrezept und einfach nur rechthaberisch dastehen zu lassen.
Der andere, durchaus gleichberechtigte Zugang scheint mir im vorliegenden Fall zu allererst der "psychologische" der "subjektiven" Statistik zu sein (s.o.): Wenn Mogeln ausgeschlossen ist, sind die Ergebnisse der (vermeintlichen?) Wahrsagerin derart überzeugend, dass es keiner weiteren (mathematischen) Untersuchung mehr bedarf.
Der fatale Anfang des Experiments besteht also zumindest auf den ersten Blick darin, dass alle späteren mathematischen Ergebnisse nur noch banal erscheinen ("Zufall ist niemals ausgeschlossen"), ja dass sich von Anfang an jede weitere Mathematisierung zu erübrigen scheint.
Da hilft nur Flucht nach vorne: der faire Versuch, den intuitiven Glauben, dass die Frau tatsächlich eine Wahrsagerin ist, nicht mit mathematischen Mitteln zu widerlegen, sondern im Gegenteil sogar zu bestätigen (wenn nicht gar zu "beweisen"?).
Alternativ könnte man fragen: "Wann ist es (anhand des vorliegenden Experiments) aus mathematischer, also durchaus objektiver Sicht naheliegend, Experimentergebnisse für glaubwürdig zu halten." Diese Fragestellung liegt ja bei der Folge der Experimente (4/4; 10/10; 99/100) tatsächlich nahe.
Die Aufgabestellung zur Wahrsagerei ist ein Musterbeispiel für
"Schuster, bleib bei deinen Leisten",
d.h. ein guter Anlass, ein enorm wichtiges Lernziel anzusteuern, nämlich zu zeigen, dass die Mathematik nur innermathematisch grenzenlos recht hat, außermathematisch aber extrem vorsichtig sein muss:
"Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
(Albert Einstein)
Außermathematisch kann Mathematik nichts beweisen (oder endgültig widerlegen), sondern "nur"
Entscheidungskriterien an die Hand geben,
gesunde Skepsis (aber nicht permanentes Misstrauen) erzeugen.
Das gilt auch und vor allem im Teilgebiet der Stochastik, die aus prinzipiellen Gründen keine sicheren Aussagen machen kann.
Das Gebiet "außersinnliche Wahrnehmungen/Wahrsagerei" schreit geradezu nach interdisziplinärer Erarbeitung (wenn man da bei all dem Stoffdruck überhaupt Zeit für hat). Wichtige Beiträge dazu können liefern
die Philosophie als "die Wissenschaft von den prinzipiell unbeantwortbaren, deshalb aber nicht weniger dringenden Fragen", und da insbesondere
Metaphysik (von griechisch meta ta physika: nach, bzw. hinter dem Physischen), philosophische Disziplin, die die Seinsstruktur der Wirklichkeit zum Gegenstand hat, d. h. die Fundamentalbedingungen alles Seienden, dasjenige, was hinter den sinnlich konkreten Phänomenen der Wirklichkeit als dessen Urgrund betrachtet werden kann.
(Microsoft Encarta Professional 2002)
und als Teil der Metaphysik auch Theologie;
und Erkenntnistheorie;
wie schon erwähnt: (Para-)Psychologie
Soziologie
(um beispielsweise Erklärungsversuche für den neuen Trend zu Esoterik zu finden);
Ethnologie
Physik.
Was hier noch fehlt, sind methodische Überlegungen zur Einführung in die Hypothesentests. Zu einem ersten Versuch siehe "Gehirnkarten".