Karl Weierstraß

vgl. auch

Über die sokratische Lehrmethode
und deren Anwendbarkeit beim Schulunterrichte

(Der wissenschaftlichen Prüfungscommission zu Münster vorgelegt im Frühjahr 1841. Abgedruckt im Jahresbericht über das Königl. Progymnasium in Dt. Crone vom Herbst 1844 bis zum Herbst 1845.)

Bei der Bearbeitung des vorliegenden, bereits vor längerer Zeit auf äussere Veranlassung geschriebenen Aufsatzes wurde ich durch das Bemühen, die Eigenthümlichkeit und das wahre Wesen der nach Sokrates benannten Lehrmethode zu einer klareren und lebendigeren Anschauung zu bringen, als die Definitionen der gewöhnlichen pädagogischen Compendien zu geben vermögen, darauf hingeführt, zunächst die Art und Weise, in der sie von jenem trefflichen Philosophen selbst in Anwendung gebracht wurde, ausführlicher darzustellen. Wir kennen die Weise des Sokrates, wie er mit den Jünglingen, die sich ihm anschlossen, und mit seinen Mitbürgern überhaupt verkehrte, aus Xenophons Schrift über ihn und aus den Dialogen des Plato. Xenophon führt uns eine Reihe einzelner Scenen aus dem Leben seines geliebten Lehrers vor, worin dieser ganz in der eigenthümlichen Haltung seines Wesens auftritt, und in Unterredungen mit den verschiedenartigsten Personen sich der Pflicht entledigt, die, wie er selbst sagt, der Gott ihm auferlegt hatte, seinen Mitbürgern rathend, ermahnend, zurechtweisend, anregend zu nützen. Die Gespräche haben grösstentheils eine praktische moralische Tendenz, und die Gegenstände sind durchaus populär behandelt. Erörterungen wissenschaftlicher Begriffe kommen weniger in ihnen vor; deshalb sind sie auch nicht geeignet, die Sokratische Methode vollständig kennen zu lehren. Plato dagegen zeigt uns den Weisen, der sich, obwohl er bescheiden von sich bekennt, dass er nichts wisse, zur Ahnung des Höchsten und Heiligsten erhoben hat, und der einzig dafür lebt und wirkt, die vom Schein und Trug der Sinne befangenen Menschen von dem eitlen und verderblichen Trachten nach Reichthum, Macht, Wohlleben und unfruchtbarer Wortweisheit abzuziehen und für ein ernstes Streben nach dem, was ewig wahr, gut und recht ist, zu gewinnen. Das ist sein Zweck, wenn er hier die prunkende Weisheit anmassender Sophisten in ihrer Blösse zeigt, dort den jungen, nach Ehre und Auszeichnung begierigen Staatsmann aufmerksam macht auf das, wodurch er allein wahres Verdienst sich erwerben könne; wenn er nach Wahrheit strebende Jünglinge auf den Weg des rechten Forschens leitet, oder wenn er im Kreise seiner Freunde das heitere Mahl durch sinnige Gespräche würzt, sodass Flötenspieler, Tänzer und Lustigmacher darüber vergessen werden. Und diese Tendenz der Sokratischen Philosophie, glaube ich, muss man beständig im Auge halten, wenn man eine richtige Ansicht von der ihm eigenthümlichen Methode zu lehren fassen will. Es schien mir daher anfänglich nicht unangemessen, den Versuch zu machen, ob sich das Wesen der Sokratischen Methode nicht vielleicht am befriedigendsten durch eine genaue Analyse eines der Platonischen Gespräche entwickeln lassen möchte. Auch dachte ich, durch eine näheres Eingehen in die Natur der von Sokrates behandelten Gegenstände am besten zeigen zu können, welche Gegenstände sich überhaupt nach seiner Weise behandeln lassen, und so zugleich für die Beantwortung der Frage, inwiefern bei unserm jetzigen Jugendunterrichte davon könne Gebrauch gemacht werden, einige Anhaltspunkte zu gewinnen. Ich versuchte es mit dem M e n o n, weil dieses Gespräch oftmals als ein schönes Muster der Sokratischen Methode empfohlen wird; und mit dem T h e ä t e t o s, der mir vorzüglich geeignet dazu erschien, nicht nur, weil hier Sokrates in der Unterredung mit seinem jungen Freunde von seiner Art zu lehren eine sehr klare Anschauung giebt, sondern sich auch über diese seine »μαιευτικην τεχνην« mehrfach selbst ausspricht. Aber ich fand bald, dass eine solche Zergliederung eines Dialogs von dem »göttlichen Weisen«, sollte sie befriedigend ausfallen, eine etwas längere und vertrautere Bekanntschaft mit den Werken desselben voraussetzt, und überdies nicht durchzuführen sein dürfte, ohne in Erörterungen, die für den beabsichtigten Zweck zu umständlich sein würden, einzugehn. Denn einmal kann ein Werk von Plato nicht füglich völlig verstanden werden, wenn es. nicht in seinem Zusammenhange mit den übrigen betrachtet wird; und dann würde überhaupt auf die behandelten Gegenstände selbst mehr Rücksicht genommen werden müssen, als mit der Absicht, bloss den Begriff der Sokratischen Methode auf diesem Wege zu entwickeln, verträglich sein möchte. Ich werde mich daher auf einige Andeutungen über die Ansicht, die ich auf dem angegebenen Wege von der Sokratischen Methode gewonnen habe, beschränken müssen. Einige Bemerkungen über das Wirken des Sokrates und den Geist seiner Lehre überhaupt scheinen mir aber nöthig zu sein, weil seine Methode in innigem Zusammenhange damit steht.

Sokrates unterschied sich in mancherlei Hinsicht von den übrigen Jugendlehrern und sogenannten Weisen seiner Zeit. Nach den Perserkriegen, seit welchen die Cultur in Griechenland so Herrliche Fortschritte machte, regte sich bei der griechischen Jugend, besonders der athenischen, das Verlangen nach einer höhern Bildung, als sie Waffenübungen und Gymnastik zu geben vermochten. Namentlich fühlten diejenigen, welche im Staate :etwas gelten, als Redner in der Volksversammlung oder vor Gericht auftreten wollten, das Bedürfniss eines entsprechenden Unterrichts. So kam es, dass sich bald eine grosse Menge von Leuten einfand, welche gegen angemessene Belohnung alles das zu lehren sich erboten, was jeder für sich erspriesslich halten mochte, und dass die jungen Männer in Sehaaren ihnen zuströmten. Es war natürlich, dass besonders eifrig die Redekunst betrieben wurde als das unentbehrlichste Mittel, im Staate sich auszuzeichnen und zu Einfluss zu gelangen, wie denn auch viele zu Sokrates kamen, damit er sie in der Kunst »zu herrschen über die Menschen« unterrichte. Aber freilich ward nicht sowohl gelehrt, durch die Kraft der Rede zu überzeugen und die Herzen der Menschen für das Rechte und Grosse zu gewinnen, als die Menge zu überreden und für die ehrgeizigen Zwecke des gewandten Sprechers zu leiten. Dabei suchte man dann eine vorzügliche Stärke darin, den Gegner durch Trugschlüsse zu verwirren, und alles, Wahres und Falsches, nach Bedürfniss und Laune zu behaupten und zu bestreiten. Und auch über alle übrigen menschlichen und göttlichen Dinge wussten diese weisen Männer auf Verlangen Auskunft zu geben. Wirklich hatten sie aus der Schule der Eleatischen Naturphilosophen, von denen schon damals viele sich trefflich darauf verstanden, »den Geist in ein tönendes Wort zu kerkern«, eine Menge prächtig klingender Formeln mitgebracht, die sie ihren erstaunten Zuhörern einprägten, sodass diese nun vermeinten, den Schlüssel zu aller Erkenntniss zu besitzen. Dem Treiben dieser Menschen, und deren sogenannter, alles sittlichen Grundes entbehrenden Weisheit trat zuerst Sokrates mit Ernst und der überlegenen Kraft, welche die Wahrheit verleiht, entgegen. Mit Recht erkannte er in ihnen die heillosesten Verderber der Jugend, weil sie das erwachte Bedürfniss einer höhere Geistesbildung für ihre selbstsüchtigen Zwecke missbrauchten, und gleich so vielen ihrer Nachfolger dem Geiste ihrer Zeit, statt ihm durch besonnenes und kräftiges Eingreifen die Richtung auf ein würdiges Ziel zu geben, sklavisch dienend sich an der Menschheit versündigten, um nur selbst Ansehen bei der Menge und - Geld zu gewinnen. Es gehört nicht hieher, darzustellen, wie glänzend Sokrates den Kampf mit den Sophisten bestand; wie er die Leerheit der Weisheit, deren sie sich rühmten, aufdeckte, wie er ihre künstliche Dialektik niederschlug; wie er selbst ihre Redekunst, durch die sie am meisten galten, in ihrer Nichtigkeit darstellte, weil sie nicht auf dem festen Grunde der Wahrheit ruhete. Ich will nur in wenigen Zügen anzudeuten versuchen, wie er selbst mit den Jünglingen, welche die Sophisten verliessen und sich ihm anschlossen, zu verfahren pflegte, um sie auf den rechten Weg zur Wahrheit und zur Tugend zu führen.

Das erste, was er that, war gewöhnlich, dass er sie zu der Überzeugung brachte, wie sie von allem, was dem Menschen das Wissenswürdigste sein müsste, noch nichts wüssten. Denn den Dünkel, schon recht vieles zu wissen und über die wichtigsten Dinge im Klaren zu sein, hielt er für das grösseste Hinderniss der Weisheit, die Erkenntniss der eigenen Unwissenheit dagegen als den Anfang derselben. Bekannte er doch von sich selbst, nichts zu wissen. »Nicht als ob - sagt Stolberg - er sagen wollte, dass er mitten unter eleganten Zeitgenossen ein Idiot wäre; aber innig durchdrungen von dem Gefühle der hienieden gehemmten Kräfte; voll von Bedürfnissen, welche die Weisheit, wie sie gang und gebe war, nicht befriedigen konnte; hoch auf den Flügeln der Ahnung gehoben, achtete er, gegen diese Ahnung, das menschliche Wissen satter Sophisten so viel als nichts«. Diese Ansicht des Sokrates von der Nichtigkeit des menschlichen Wissens, wohl zumeist hervorgegangen aus seinem fruchtlosen Bemühen während eines guten Theils seines Lebens, über so viele Fragen, die seinen herrschenden Geist beschäftigten, bei den berühmtesten Weisen seiner Zeit befriedigende Aufschlüsse zu . erlangen - diese Ansicht darf nicht übersehen werden, wenn man den Geist seiner Lehre richtig auffassen will.

Sokrates fand aber nicht bloss nöthig, gegen den Dünkel des Wissens anzukämpfen, sondern noch manche andere Hindernisse der Empfänglichkeit musste er erst ans den Gemüthern wegtilgen, ehe er den Samen besserer Erkenntniss ausstreuen konnte. Gar viele von denen, welche sich seiner Leitung übergaben, waren bereits mit positiven Irrthümern behaftet, und zumal von der herrschenden Richtung, die auf Reichthum, Macht und Genuss ging, angesteckt. Manche suchten sogar bei ihm nichts anderes als bei den Sophisten; nur hofften sie es vorzüglicher von ihm zu erhalten, weil sie sahen, wie die Sophisten nicht vor ihm bestehen konnten, er also wohl weit weiser sein müsste. In der Art, wie er solche Verirrte zurechtwies, sie zur Erkenntniss ihres verkehrten Strebens führte und ihren Sinn auf das Bessere lenkte, - hierin zeigt sich vorzüglich seine unübertreffliche Kunst, die Menschen zu behandeln, gegründet auf eine tiefe Kenntniss des menschlichen Herzens und klare Durchschauung der mannigfaltigsten Lebensverhältnisse; aber auch in dem herrlichsten Lichte sein liebevolles und von der reinsten Begeisterung für das Gute und Edle beseelte Gemüth. In dieser Beziehung ist sein Verhältniss zu Alcibiades, wie es uns Plato, wenn auch wohl idealisirt, schildert, höchst interessant. Sokrates allein hatte Gewalt über diesen feurigen Geist, die dieser selbst unwillig oft empfand und doch vor ihr sich beugte. Trefflich wird dies dargestellt in der Lobrede, die Alcibiades dem Sokrates im Gastmahl hält.

Das Verfahren aber, das Sokrates befolgte, wenn er jugendliche Seelen von gefährlichen Irrthümern befreien und von verkehrten Bestrebungen abziehen wollte, war an sich höchst einfach und natürlich. Schonend und milde liess er sie gar nicht empfinden, dass er etwas Irriges und Ungehöriges an ihnen bemerkte, welches er vertilgen wollte. Er liess sich vielmehr zu ihren Ansichten herab, nur oft durch eine leise Ironie ihren Irrthum gleich Anfangs sie ahnen lassend; und durch Beispiele aus dem Bereiche ihrer eigenen Erfahrungen sie an bestimmte, unbestreitbare und von ihnen selbst anerkannte Wahrheiten erinnernd führte er sie allmählig zur Erkenntniss des Unhaltbaren und Widersprechenden ihrer vorgefassten und oft nicht einmal recht verstandenen Meinungen. Dann pflegte er, ebenfalls allen Schein ausdrücklicher Belehrung vermeidend, ihnen fühlbar zu machen, wie sie auf dem schon betretenen oder gesuchten Wege nicht einmal das erreichen würden, nach dem sie doch strebten. Und nun erst liess er sie ahnen, es möge doch wohl etwas Besseres geben als die Güter, nach denen die bethörte Menge trachtete, und etwas Gewisseres als der äussere Schein. So entflammte er in ihren Gemüthern eine edle Begierde nach höherer Erkenntniss, und bereitete sich für die Aufnahme seiner eigenen Lehre einen empfänglichen und fruchtbaren Boden.

Denn Sokrates blieb nicht dabei stehen, falsche und verderbliche Grundsätze zu bekämpfen, und die von denselben Missleiteten von ihren Verirrungen und verkehrten Bestrebungen zurückzuführen; als den eigentlichen Beruf seines Lebens betrachtete er es vielmehr, allen, die sich seiner Führung übergaben, den Weg zur wahren, das ganze Leben durchdringenden und bestimmenden Weisheit zu zeigen. Diesen finde aber nur der, lehrte er, welcher frei von dem Wahne, die ewige Wahrheit in dem Gebiete der sinnlichen Erscheinungen entdecken zu können, auf die Regungen des Göttlichen' in dem menschlichen Geiste mit frommer Seele achte, wo es sich vor allem in dem sittlichen Bewusstsein klar und verständlich ausspreche. Darum sei Selbsterkenntniss das Erste und Nothwendigste, nach dem jeder Mensch streben müsse; diese werde ihm, nachdem er das vernünftige Prinzip in den Gesetzen seines eigenen geistigen Lebens erkannt habe, zur Ahnung einer ewigen, durch die ganze Welt waltenden göttlichen Vernunft führen, in welcher alles, was ist und geschieht, seine Einheit finde, und von der das Vernünftige und Göttliche im Menschen ein Ausfluss und Abbild sei. Und in der Erkenntniss dieser höchsten Vernunft immer weiter vorzudringen, und nach ihr sein ganzes Leben einzurichten, sei die wahre Bestimmung des Menschen, in deren Verfolgung er allein seine Glückseligkeit finden könne.

Es ist hier nicht der Ort, diese Grundsätze der Sokratischen Philosophie näher zu entwickeln; ich habe bloss anzugeben, auf welche Weise er seine Lehre seinen Schülern mittheilte.

Sokrates befolgte nicht die Weise der meisten Philosophen vor ihm und nach ihm, bestimmte Wahrheiten als das Resultat angestellter Forschungen vorzutragen und in fortlaufender Rede die Gründe derselben zu entwickeln. Sein Bemühen ging vielmehr darauf hinaus, die Erkenntniss in der Seele des Lernenden nach und nach sich entwickeln zu lassen, in der Art, dass sie ihm als Produkt seiner eigenen geistigen Kraft erscheinen sollte, wenn diese auch noch zu schwach war, um ohne fremde Führung das Rechte zu finden. Darum war sein Unterricht nicht sowohl. ein eigentliches Mittheilen als vielmehr ein Anregen und Beleben der geistigen Thätigkeit. Die Natur der Gegenstände, welche den Inhalt seines Unterrichts ausmachten, und die eigenthümliche Ansicht, die er von ihnen hegte, bestimmten ihn zu dieser Methode. Die Wahrheiten, für welche er die Geister gewinnen wollte, waren nicht von, der Beschaffenheit, dass er sie ihnen hätte bloss äusserlich mittheilen und einprägen können, wenn sie Bedeutung und Werth für den Empfangenden haben und nicht bloss zu leeren Formeln werden sollten, wie es selbst bei den Schülern des Pythagoras zum Theil der Fall gewesen. Sondern wie ihr Keim nach seiner festen Überzeugung in jedem menschlichen Gemüthe vorhanden war, so sollten sie auch aus diesem organisch entspriessen; und sein eigenes Geschäft dabei verglich er selbst mit den Verrichtungen der Geburtshelferinnen.

Zur nähern Bezeichnung des Geistes seiner Lehrart möge noch Folgendes dienen.

Mehrfach wird bei Plato von Sokrates die Behauptung aufgestellt, alles Lernen in seinem Sinne sei nichts als ein Sich-Erinnern. So spricht er sich unter anderm im M e n o n aus, und führt zum Beweise an, dass man namentlich jeden Menschen dahin bringen könne, die Sätze der Geometrie sich selbst zu entwickeln, wenn man ihn nur durch zweckmässige Fragen anleite. Er zeigt dies durch ein Beispiel an einem Sklaven, aus dem er einen geometrischen Lehrsatz herausfragt. Man führt diese Stelle oft als ein besonders passendes Beispiel seiner Methode an. Wohl nicht ganz mit Recht; denn die Sache an sich ist höchst einfach, und Sokrates bezweckt ja auch nichts weiter dadurch, als dem Menon auf eine ganz naheliegende Weise den Sinn seiner ausgesprochenen Ansicht anschaulich zu machen. Bemerkenswerth ist aber der Umstand, dass Sokrates auch hier den Sklaven, der auf die ersten Fragen ganz keck und zuversichtlich antwortet, zunächst von seiner Unwissenheit hinsichtlich der in Frage stehenden Sache überführt, und nach dem Eingeständniss derselben den Menon darauf aufmerksam macht, wie der Sklave gerade hierdurch dem Ziele um einen bedeutenden Schritt näher gekommen sei.

Dieselbe Behauptung, dass Lernen ein Sich-Erinnern sei, findet sich im P h ä d o n und wird dort näher erörtert. Sokrates spricht von den Ideen. Die Ideen können keine der Sinnenwelt entnommenen Vorstellungen sein, weil sie sich nirgends an einem sinnlichen Objekte vollständig, realisirt finden. Darum sind sie nothwendig ursprünglich in der Seele vorhanden und in dem Wesen ihrer Natur begründet. Sokrates hält sie für Erinnerungen der Seele aus einem frühern, vollkommenern Zustande. Daraus folgt, dass der Geist auf keinem andern Wege zu ihrer Erkenntniss geführt werden kann als durch Belebung der Erinnerung.

Ich habe diese Stelle angeführt, weil sie zugleich einen Wink giebt von der Beschaffenheit der Gegenstände, die auf Sokratische Weise behandelt werden können.

Besonders lehrreich sind die äusserungen des Sokrates über seine Methode im T h e ä t e t o s. Hier vergleicht er, auf das Geschäft seiner Mutter anspielend, seine Kunst mit der Geburtshülfe, um anzudeuten, von welchem Gesichtspunkte er das Lehren betrachte. »So viel ist gewiss, - sagt er - dass die Jünglinge, die mit mir umgehen, nicht etwa von mir jemals etwas gelernt haben, sondern aus sich selbst entdecken sie viel Schönes und halten es fest. Die Geburtshülfe dabei aber leisten wir, der Gott und ich«. Als das Grösseste seiner Kunst aber rühmt er, »dass sie im Stande sei zu prüfen, ob die Seele des Jünglings etwas Missgestaltetes und Falsches zu gebären im Begriffe sei, oder etwas Gebildetes und Echtes«.

Die äussere Form der Sokratischen Methode stimmt im Wesentlichen mit der sogenannten katechetischen Lehrart überein, wenn man von dem häufigen Gebrauch der Ironie absieht, die aber auch nur für einen Mann von Sokrates Geiste ist, aber manchem von denen, die gern seine Jünger heissen möchten, gar schlecht ansteht. Lehrer und Lernender verkehren gesprächsweise mit einander; jener fragt und dieser antwortet. Der Lehrer muss den Begriff, den er beibringen will, zuvörderst gehörig zergliedert haben, wie er sich in der Seele des Lernenden erzeugen lässt. Darnach richtet er seine Fragen ein, die immer von der Art sein müssen, dass sie jener nach dem, was er schon weiss, beantworten kann, wenn er nur seine geistige Kraft, so weit sie schon entwickelt ist, gehörig braucht. Erfolgt eine unrichtige Antwort, so wird sie nicht unmittelbar von dem Lehrer berichtigt, sondern der Lernende wird durch neue Fragen dahin geführt, sie selbst zu verbessern. Die Kunst des Lehrers besteht hauptsächlich darin, dass er den Gedankengang des Lernenden zu verfolgen und hiernach seine Fragen zu stellen weiss, und dass er nicht beim Berichtigen der falschen Antworten sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert, sondern immer wieder gehörig einzulenken versteht. Sokrates bediente sich der katechetischen Form durchgehends, und war vollendeter Meister darin. Wie man sich der jugendlichen Fassungskraft anschmiegen müsse, davon wird unter andern im E u t h y d e m o s ein schönes Beispiel gegeben im Gegensatze zu dem Verfahren zweier Sophisten, deren Weisheit sich darin gefiel, die Gemüther in Verwirrung zu setzen.

Es scheint aber, als ob man nicht selten die katechetische Form mit dem Wesen der Sokratischen Methode überhaupt verwechselt, und Katechetik und Sokratik gewissermassen für ein und dasselbe gehalten habe. Wenigstens waren in diesem Irrthume alle die befangen, welche den Jugendunterricht durchaus in Sokratischer Methode ertheilt haben wollten. Allerdings wird beim Elementar-Unterrichte die katechetische Form immer vorwalten müssen; es bezieht sich aber hier das Katechisiren, abgesehen davon, dass es zum Theil bloss prüfend und wiederholend ist, meistentheils auf einen gegebenen äussern Stoff, der für die Fassungskraft des Schülers zergliedert wird. Selbst wenn eine solche Übung einzig die Weckung und Stärkung der geistigen Kräfte zum Zweck hat, so ist das doch noch keineswegs Sokratik. Das Wesen derselben glaube ich vielmehr nach dem Vorhergehenden etwa so aussprechen zu können.

Diejenigen Erkenntnisse, welche entweder ihre Quelle unmittelbar in den Anlagen der menschlichen Natur haben, oder aus bereits vorhandenen Vorstellungen, Begriffen und Ideen abgeleitet werden können, lässt die Sokratische Methode den Lehrling durch eigene Geistesthätigkeit auffinden und gewissermassen erzeugen. Es geschieht dies unter der beständigen Führung des Lehrers, der nicht nur die Geistesthätigkeit anregt, sondern auch fortwährend leitet und bestimmt.

Ich bemerke noch, dass es nicht richtig ist, wenn man zuweilen den Zweck der Sokratischen Methode darauf beschränkt, dass sie denken lehren solle. Allerdings übt sie die Denkkraft in ausgezeichneter Weise, weil sie ja alles auf dem Wege der Reflexion hervorgehen lässt. Aber sie hat keineswegs eine bloss formale Tendenz, sondern es soll durch sie jedesmal ein bestimmtes Resultat erreicht werden, das dem Geiste als sein Eigenthum verbleibt, und es soll dieser gerade dadurch, dass er reicher wird an Ideen, also an wahrem Wissen, auch intensiv an Kraft gewinnen; so wie auch der leibliche Organismus, wie er im Wachsthume fortschreitet, zugleich an innerer Lebenskraft zunimmt. Wenn daher Jemand sagt: »die Sokratische Methode lehrt denken, aber nicht wissen« - so muss einer solchen Behauptung ein seltsamer Begriff' vom Wissen zum Grunde liegen.

Mehrere Schriftsteller unterscheiden zwischen Sokratischer und heuristischer Methode. Als Hauptunterschied beider wird angegeben, dass bei der heuristischen eigentlich der Schüler der Thätigste sei, unter der wissenschaftlichen Aufsicht des Lehrers; bei der Sokratischen dagegen seine Thätigkeit weit mehr von der Thätigkeit des Lehrers abhängig erhalten werde. Bei jener gehe nämlich der Schüler ganz seinen eignen Weg, auf den der Lehrer nur in der Art zu achten habe, dass er kein Irrgang werde; bei dieser müsse er sich auf dem Wege fortbewegen, den ihm der Lehrer vorzeichnet; bei der heuristischen entwickle also der Schüler seine Schlüsse aus dem Innern; bei der Sokratischen werde ihm durch des Lehrers Fragen immer vorgehalten, woraus er schliessen solle; oft schliesse sogar der Lehrer versteckter Weise für ihn. (S. die Erläuterungen zu dem Leitfaden für einen heuristischen Schulunterricht in der Mathematik von Matthias.)

Diese Bemerkungen scheinen jedoch weniger das Wesen der Sokratischen Methode als deren Form zu treffen. Ihr Prinzip ist ja auch eben, den Schüler so viel als möglich selbst finden zu lassen, was er lernen soll. Es handelt sich hier nur darum, wie weit die eigene Geistesthätigkeit des Schülers gehen könne, und in welcher Art der Lehrer einzugreifen habe. Darüber lässt sich aber nicht wohl im Allgemeinen etwas festsetzen; die Natur des Lehrgegenstandes, der Grad der Vorbildung des Schülers, die Virtuosität des Lehrers und andere zufällige Umstände müssen darüber entscheiden. Wollte man aber hiernach einen Unterschied zwischen Sokratischer und heuristischer Methode machen, so möchte sich die Grenzscheide schwer bestimmen lassen. Mehr Bedeutung hat die Bemerkung, dass bei der Sokratischen Weise der Schüler nicht gleich anfangs sehe, wie und woraus er sein Resultat finden werde, während bei der heuristischen das Ziel in heller Nähe vor ihm liege. Wo sich das Letztere erreichen lässt, kann es allerdings für den Erfolg des Unterrichts nicht anders als höchst förderlich werden; bei mathematischen Gegenständen lässt es sich in manchen Fällen am ersten bewerkstelligen.

Der Sokratischen Methode gegenüber - jedoch keineswegs entgegen - steht die sogenannte akroamatische Lehrform. Der Lehrer entwickelt hier in zusammenhängender Rede seinen Gegenstand den Schülern, deren Thätigkeit auf ein gehöriges Auffassen, Überdenken und Einprägen des Vorgetragenen angewiesen ist. Gewisse pädagogische Schriftsteller haben ihren Witz daran geübt, diese Lehrart lächerlich zu machen. Trapp nennt sie die Professor-Methode und meint, da schütte der Lehrer' aus seinem vollen Magazine nur immer in den leeren Kopf des Schülers hinein, unbekümmert, ob die Saat dem Boden angemessen, ob des Samenkorns auch zu viel, ob auch gerade jetzt die rechte Saatzeit sei. Es ist leicht, gegen eine Sache zu reden, wenn man nur ihren Missbrauch im Auge hat. So viel ist gewiss, der akroamatische Vertrag setzt, wenn er von Erfolg sein soll, Schüler von bereits reiferm Geiste voraus. Wenn aber ihrerseits die Fähigkeit vorhanden ist, einer längern Rede gehörig zu folgen, sie im Einzelnen und Ganzen richtig aufzufassen, und das Gehörte auf die rechte Art zu verarbeiten; wenn sie bereits ein gewisses wissenschaftliches Interesse fühlen, das sie die erforderliche Anstrengung nicht scheuen lässt, wenn dann auch der Lehrer mit den nöthigen Eigenschaften ausgerüstet ist, seines Gegenstandes vollkommen Meister ist, die Gabe einer klaren Entwicklung besitzt, mit Leichtigkeit, Präcision und angemessener Lebendigkeit zu reden weiss: - dann dürfte in manchen Fällen der zusammenhangende Vortrag den Vorzug vor jeder andern Unterrichtsform behaupten, und selbst als formales Bildungsmittel sehr an seiner Stelle sein. Ich rede hier noch nicht von den Fällen, wo er durch die Natur des Gegenstandes oder aus pädagogischen und andern Gründen nothwendig wird; ich betrachte ihn nur an sich. Die klare Überschauung des Gegenstandes, die durch den akroamatischen Vortrag möglich wird, wenn er gehörig eingerichtet ist; der sachgemässe ununterbrochene Fortschritt, der ihm eigen ist; das Interesse, welches schon die Form der Darstellung zu erregen vermag: alles dies sichert ihm unstreitig eigenthümliche Vorzüge. Und dann, wer sollte verkennen, welche bildende Kraft an sich schon in einem trefflichen Vortrage liegt? Zumal wenn nicht nur der Verstand, sondern auch das Gemüth in Anspruch genommen, wenn nicht nur das Wissen bereichert, sondern auch auf die Gesinnung gewirkt werden soll; so möchte wohl von einer zusammenhangenden, Geist und Leben athmenden Rede der stärkste und dauerndste Eindruck zu erwarten sein.

Dann ist es aber auch noch ein höchst bedeutender Vortheil der akroamatischen Lehrforen, dass sie dem Lehrer Gelegenheit giebt, dem Schüler Muster wissenschaftlicher Behandlung und Forschung darzulegen. Nichts ist bildender für den aufstrebenden Geist als die Betrachtung des Weges, den ein schon mehr ausgebildeter bei seinen Untersuchungen nimmt. Wenn also der Lehrer die Kunst versteht, nicht bloss Resultate mitzutheilen und a posteriori zu begründen, sondern die ganze Gedankenfolge, die zu ihnen geführt hat, anschaulich zu machen, so darf er zumal bei schon vorgeschrittenen Schülern eines guten Erfolges sicher sein. Ich finde von F. A. Wolf die Bemerkung, der philologische Lehrer würde wohl thun, den Schülern der obern Klassen zuweilen in einem Mustervertrage zu zeigen, »wie ein alter Klassiker studirt und aufgefasst werden müsse«. Ein ähnliches gilt von den übrigen Lehrgegenständen. Vormachen hilft mehr als Vorsagen.

Es bleibt nun noch übrig, die Gegenstände näher anzugeben, für welche sich die Sokratische Methode eignet, und welche eine andere Behandlungsweise entweder nöthig oder doch unter bestimmten Verhältnissen räthlich machen. Ich muss mich jedoch auf einige Andeutungen beschränken, da eine vollständige Ausführung die vorgeschriebenen Grenzen dieses Aufsatzes überschreiten würde.

Wenn ich in dem Vorhergehenden den Begriff der Sokratischen Methode richtig bestimmt habe, so sind dadurch im Allgemeinen zugleich die Grenzen gezogen, innerhalb welcher sie ihre Anwendung finden kann. Ausgeschlossen durch ihren Begriff bleibt sie von dem Gebiete des historischen Wissens im weitesten Sinne des Worts und der Real-Disciplinen. Als ihr eigenthümliches Feld sind also die philosophischen Wissenschaften, die reine Mathematik und die Theorie der allgemeinen Gesetze der Sprache zu betrachten. Hiermit soll aber keineswegs behauptet werden, dass sie bei diesen Gegenständen unter allen Umständen durchaus nothwendig oder auch nur zweckmässig sei. Denn die Frage nach dem Umfange ihrer Anwendbarkeit gewinnt eine andere Gestalt, sobald man untersucht, inwiefern der Jugendunterricht in den Schulen Gebrauch davon machen könne. Hier fallen sogleich einige äussere Umstände in die Augen, welche die Grenzen ihrer Anwendbarkeit um ein Bedeutendes verengen.

Die Sokratische Methode kann auch bei den ihr an sich ganz angemessenen Gegenständen ihren Erfolg völlig nur dann haben, wenn der Lehrer nur einen oder doch nur sehr wenige Schüler vor sich hat. Ich sehe von allen übrigen Hindernissen, die der Lehrer in einer gefüllten Klasse findet, ganz ab, und bemerke nur dieses. Während der Lehrer mit einem Schüler verkehrt, - und bei wahrer Sokratischer Methode ist es doch nöthig, dass die Untersuchung mit einem wo nicht zu Ende, doch zu einem bestimmten Abschlusse geführt werde - geht ein grosser Theil seines Unterrichts für die übrigen Schüler verloren. Es ist in manchen Fällen für den Schüler zu schwer, das Gespräch, welches der Lehrer mit einem andern hält, gehörig zu verfolgen. Dazu müsste er sich ganz in den Gedankengang des letztern hineinfinden können, was oft für den Lehrer schwer genug ist. Oft würde er auch selbst ganz anders geantwortet haben; dann vermengt er seine Gedanken mit denen des andern und geräth in Verwirrung; hat er einmal den Faden verloren, so ist alle Aufmerksamkeit dahin.

Die Sokratische Methode in ihrem wahren Geiste durchgeführt passt weniger für Knaben als für reifere Jünglinge. Zumal die Gegenstände, welche die geeignetsten für sie sind, diejenigen, über welche des Sokrates eigener Unterricht sich erstreckte, gehören nicht für das Knabenalter. Überhaupt darf man nicht vergessen, dass es griechische, schon auf einer nicht unbedeutenden Stufe der Bildung stehende Jünglinge waren, die Sokrates vor sich hatte.

Nicht minder erfordert die Sokratische Methode einen Lehrer von ausgezeichnetem Talente. Wer in Sokrates Weise unterrichten will, muss auch von Sokrates Geiste etwas in sich tragen. Mancher Lehrer aber, der auf seinem Wege, welchen er sich seiner Individualität gemäss selbst gebahnt hat, Tüchtiges leistet, würde sich nur schwer in einer ihm nicht natürlichen Form bewegen.

Aus diesen Bemerkungen möchte wohl der Schluss zu ziehen sein, dass bei dem Schul-Unterrichte die Sokratische Methode weder die allgemeine, noch selbst die vorherrschende sein könne. Dass die Schule den Lehrling auch zum selbständigen Gebrauch seiner Kräfte anzuleiten habe, ja dass dieses ganz vorzüglich ihre Aufgabe sei, bedarf keiner Erinnerung. Es war hier nur zu untersuchen, ob sich für diesen Zweck die Sokratische Methode als unbedingt anwendbar erweise. Auf welche -andere Weise übrigens die Schule ihre Aufgabe lösen könne, das nachzuweisen gehört nicht hieher.

Hinsichtlich des Gymnasial-Unterrichts insbesondere bemerke ich noch Folgendes. Die Bildung, welche der Unterricht auf den Gymnasien erzielt, basirt zum grossen Theile auf historischen Grundlagen. Sprache, Litteratur und Geschichte der Völker des Alterthums, deren Cultur die Grundlage der neuere Bildung überhaupt ist, werden als die vorzüglichsten Mittel für die geistige Bildung der Jugend betrachtet. Dass aber bei diesen Gegenständen die Sokratische Methode keine Anwendung finden könne, ist schon oben gesagt; und schon deshalb bleibt sie vom Gymnasial-Unterrichte grösstentheils ausgeschlossen. Die Naturwissenschaften können ebenfalls nicht auf Sokratische Weise gelehrt worden. Der Religions-Unterricht wird zwar sehr oft in katechetischer Form ertheilt; aber eigentliche Sokratik kann doch wenig vorkommen, und bleibt wenigstens von den Lehren, die dem Gebiete der positiven Religion angehören, gänzlich ausgeschlossen. In den obern Klassen möchte selbst eine der wissenschaftlichen Form sich annähernde akroamatische Behandlungsweise die passendste sein. Von den philosophischen Disciplinen gehören nur die propädeutischen in den Gymnasial-Unterricht. Hier sind Proben Sokratischer Behandlung ganz an ihrer Stelle. Somit bliebe hauptsächlich noch die Mathematik übrig, welche auf Sokratische Weise gelehrt werden könnte. Hierfür haben sich in der That stets viele Stimmen erhoben. Manche mögen den Anspruch des Sokrates im Sinne gehabt haben, den ich bereits oben anführte. Sokrates möchte indess gegenwärtig kaum noch so urtheilen. Aber es ist auch manches sehr gewichtige Urtheil dagegen vernommen worden, und zwar von Männern, deren Leistungen als Lehrer sehr bedeutend waren, und denen man nicht den beliebten Vorwurf machen konnte, dass sie »am alten Schlendrian hingen«. Diese erklärten es für nicht möglich, eine ganze Klasse durchaus nach Sokratischer Methode mit gutem Erfolge zu unterrichten. Ihre Gründe waren zum Theil von ähnlicher Art wie die vorhin in Beziehung auf den Schulunterricht überhaupt angeführten. Aber mit Recht erinnerten sie auch, dass gründliches Verstehen erzielt werden könne, wenn man den Schüler auch nicht gerade selbst den Weg der Erfindung durchmachen lasse. Der Lehrer soll die Wissenschaft vor den Augen des Schülers entstehen lassen. Wie sie sich in dem Geiste des gereiften Denkers aus den ihm inwohnenden Grundvorstellungen entwickelt und gestaltet, so soll er sie, nur für die jugendliche Fassungskraft eingerichtet, darstellen und als ein organisch sich bildendes Produkt der Vernunftthätigkeit mittheilen. An seinem Verfahren soll der Schüler mathematisch denken lernen. An Folgerungen aus fruchtbaren Hauptsätzen, an Lösungen mannichfaltiger Aufgaben mag dann auch die Sokratische Methode geübt werden. Aber als herrschende Form kann sie auch beim mathematischen Unterrichte nicht in Anwendung kommen.

Wenn demnach nach meiner Ansicht der Sokratischen Methode beim Schulunterricht nur ein beschränkter Gebrauch zugestanden wird, so soll damit ihr hoher Werth an sich keineswegs herabgesetzt werden. Es liegen nur zum Theil die Gegenstände, für welche sie am geeignetsten ist, nicht im Bereiche des Schulunterrichts, zum Theil wird durch die Eigenthümlichkeit des letztern ihre Beschränkung geboten. Sokrates bildete sich seine Methode für den bestimmten Zweck seines Wirkens, wie ich ihn oben darzustellen versucht habe, seiner Individualität und den Bedürfnissen seiner Zeit gemäss; eine allgemeine Methode für die Schule konnte er nicht aufstellen wollen. Aber schön wäre es, wenn der Geist, aus welchem sein Wirken hervorging, überall die Seele der Erziehung und des Unterrichts wäre - seine hohe Begeisterung für das Wahre, Schöne und Gute, und die Liebe seines reinen Gemüths.