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Schulen für ein neues Verständnis von Leistung und Qualität

Die didaktischen Leiterinnen der Laborschule Bielefeld, der Gesamtschule Brackwede und der Olaf-Palme-Gesamtschule Hiddenhausen haben im Sommer 1999 die nachstehenden Thesen veröffentlicht und mit einem Aufruf zunächst Schulleitungen in allen Bundesländern um Unterstützung gebeten. Inzwischen sind Zustimmungserklärungen aus mehr als 160 Schulen eingegangen. Weitere Unterstützungsunterschriften, auch von Einzelpersonen und Kollegengruppen, können an die Kontaktadresse geschickt werden. Gegenwärtig wird ein Brief an die Kultusminister vorbereitet, um damit dem bundesweiten Trend, Qualität von Schule durch Vergleichstests, Prüfungen und Kontrollen zu verbessern, entgegenzuwirken.

(Kontaktadresse: Olaf-Palme-Gesamtschule Hiddenhausen, Pestalozzistr. 5, 32120 Hiddenhausen)


Wir, die Unterzeichnenden, sehen den gegenwärtigen Trend in der Bildungspolitik mit Besorgnis. Durch länderübergreifende Vergleichstests soll angeblich Lernen gefördert, Leistung verbessert werden. Wir halten dieses Mittel für kontraproduktiv. Einem quantitativ-technokratischen Bildungsverständnis, das sich darin ausdrückt, setzen wir die folgenden Thesen entgegen.

  1. Schulen haben die Aufgabe, die ihnen anvertrauten Kinder zu möglichst guten Leistungen zu befähigen. Es gibt keinen höheren Leistungsanspruch als den, dass jeder Mensch sein Bestes tut. Kinder brauchen Bestätigung und Ermutigung für ihre je subjektive Leistung. Wer sich schon früh als Versager erleben muss, auch wenn er sich anstrengt, kann kein mündiger, zuversichtlicher und nach seinen Möglichkeiten leistungsstarker Mensch werden.

Wir plädieren für einen pädagogischen Leistungsbegriff (W. Klafki). In den Jahren des Aufwachsens muss die Entwicklungsleistung Vorrang haben vor der Erfüllung von Normen. Ein Kriterium für die Qualität einer Schule ist, ob und wie sie allen Schülerinnen und Schülern zu ihrem individuellen Leistungsoptimum verhilft. Das ist zugleich der beste Weg zu hohen Leistungsstandards. Die Zukunft der Schule darf nicht durch einen verwertungsorientierten Leistungsdarwinismus bestimmt sein.

  1. Schulen haben die Aufgabe, den Heranwachsenden eine Bildung mitzugeben, die sie mit den Grundlagen unserer Kultur vertraut macht. Dies geschieht in subjektiven, je unterschiedlich verlaufenden Prozessen der Aneignung. So heißt Geschichte lernen nicht, isolierte Zahlen und Fakten zu pauken, sondern das Gegenwärtige und das Zukünftige vor dem Hintergrund des Vergangenen verstehen zu lernen. Solche Bildung lässt sich nicht in Zahlenwerten ausdrücken und auch nicht mit quantitativen Methoden messen.

    Wir plädieren für ein Verständnis von Bildung im Sinne Humboldts. "Aneignung von Welt" geschieht durch eigenständiges, entdeckendes, aktives Lernen, durch Erfahrung und Reflexion. Das schließt den Erwerb von Fachwissen ein, geht aber weit darüber hinaus. Die Qualität von Bildung bemisst sich primär an den Verstehensprozessen. Ein Kriterium für die Qualität einer Schule ist, wie sie solche Prozesse anlegt. Quantitative Vergleichstests nötigen die Schulen dazu, falsche Prioritäten zu setzen, die Erfüllung von Normen für Bildung auszugeben.

  2. Lernen ist ein komplexer Prozess. Nicht zwei Menschen lernen gleich. Von der Lern- und Intelligenzforschung wissen wir, dass Schulen den menschlichen Möglichkeiten zu wenig gerecht werden, sie vielfach verschütten. Nicht mehr Einheitlichkeit ist angesagt, sondern mehr Vielfalt. Schulen gehen noch viel zu wenig auf die Unterschiedlichkeit der Kinder ein und können es unter Normdruck erst recht nicht.

    Wir plädieren für eine Bildungsreform, die diesen Namen verdient. Ihre vorrangige Aufgabe wäre, eine Didaktik für alle Fächer zu entwickeln, die der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten entspricht. Ein Kriterium für die Qualität einer Schule ist ihre Arbeit an dieser Aufgabe. Zeitgleiches, normiertes Lernen, wie es die Vergleichstests erfordern, behindert diesen Prozess. Lernfreude und Lernbereitschaft werden durch vielfältige Anreize und Herausforderungen gefördert, nicht durch Erfüllungsmentalität.

  3. Die "Produkte" von Schulen sind Menschen, nicht Wissensmengen in Köpfen. Die heute Heranwachsenden werden künftig vor Aufgaben stehen, die mit Fachwissen allein nicht zu bewältigen sind. Die Schulen müssen sie dafür stark machen. Unsere Gesellschaft braucht Menschen mit Charakter, deren Denken, Fühlen, Urteilen und Handeln übereinstimmen, deren Fähigkeiten allseitig gefördert sind. Unter Test- und Normdruck droht schulisches Lernen zur kognitiven Einbahnstraße zu werden.

    Wir sind überzeugt: Gute Fachkenntnisse allein machen noch keine gute Schule aus. In einer Zeit beschleunigten Wandels und schnell veraltenden Wissens müssen Lernprozesse auf überfachliche Qualifikationen wie Selbstständigkeit, Kreativität und Teamfähigkeit angelegt werden. In einer Zeit zunehmender Desorientierung müssen Gemeinsinn und Verantwortung täglich gelebt werden. Wie dies in einer Schule geschieht, ist ein Kriterium für die Qualität ihrer Arbeit.

  4. Die Spannungen, Probleme und Verwerfungen unserer Gesellschaft wirken machtvoll in die Schulen hinein. Dies ist abhängig vom Standort und je individuellen Kontext. Die Schulen haben darum teilweise extrem unterschiedliche Arbeitsbedingungen. Quantitative Vergleichstests setzen eine Gleichheit voraus, die es nicht gibt. Die Forderung, eine Drei müsse überall für das Gleiche stehen, geht an der Realität vorbei.

    Wir erleben täglich: Die Kinder legen ihre Probleme nicht an der Tür zum Klassenzimmer ab. Schulen können die Gesellschaft nicht verändern. Aber sie müssen es mit den Lebensproblemen der Kinder aufnehmen. Ein Kriterium für Schulqualität ist, dass sie das auch wollen. Schulen, die in besonders belasteten Stadtteilen zu einem Gegenmodell des vernünftigen, friedlichen Zusammenlebens werden, leisten hervorragende Arbeit, auch wenn die Fachleistungen unter der Norm bleiben.

  5. Schule soll ein Modell dessen sein, wozu sie erzieht. Das gilt auch für ihr Kerngeschäft, das Lernen. Schule muss eine lernende, an sich arbeitende Institution sein. Das setzt ein hohes Maß an Autonomie voraus und vor allem Lehrerinnen und Lehrer, die diese zu innovativer Entwicklungsarbeit verantwortlich nutzen. Dies schließt die Rechenschaftspflicht der Schulen selbstverständlich ein.

    Unsere Erfahrung lehrt: Auf die Lehrerinnen und Lehrer kommt es an. Die Qualität einer Schule hängt von ihrer Einstellung und Tätigkeit ab. Sie müssen ihre Schule wollen, sie selbstbewusst und kritisch gestalten, überprüfen und verbessern. Dies wird durch Schelte "von oben" und Vorgaben, die alle Schulen zugleich erfüllen sollen, nicht gefördert, sondern behindert. Wer Innovation will, muss Vielfalt und individuelle Entwicklungen fördern, nicht Gleichschaltung erzwingen.

  6. Schule steht im Kontext sich wandelnder Anforderungen. Der Rückgang der bezahlten Arbeit und der wachsende Konkurrenzdruck dürfen nicht zu Schuldzuweisungen an die Schulen umgemünzt werden. Nicht die Schulen sind Ursache für die wachsende Zahl arbeitsloser Menschen, sondern der Markt.

Wir warnen: Bildung und Erziehung dürfen nicht von Konjunkturschwankungen diktiert werden. Verstärkter fachlicher Druck führt dazu, dass die Schulen zwangsläufig mehr "Versager" produzieren. Das macht sie nicht besser und hilft den Betroffenen nicht. Stattdessen kommt es auf eine Entwicklungsarbeit an, die auf möglichst vielfältige Qualifizierung zielt und allen Jugendlichen Lebensperspektiven ermöglicht. Solche Arbeit ist ein Qualitätskriterium für Schulen.

Wir streben ein Bündnis zwischen Schulen, Fachdidaktiken, Vertretern der Erziehungswissenschaft und der Wirtschaft an, das die notwendige Entwicklungsarbeit in Gang bringt. Dazu gehören auch neue Formen der Qualitätssicherung, die dem hier vertretenen Verständnis von Schulqualität entsprechen. Quantitative Vergleichstests tun das nicht.