Mathe meets Deutsch

 


"Das Stück [...] spielt irgendwo in der Schweiz in einem privaten Nervensanatorium, wo die weltbekannte Psychiaterin Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd drei Kernphysiker, harmlose, liebenswerte Irre, behandelt: Ernst Heinrich Ernesti, der sich für Einstein1 hält, Herbert Georg Beutler, der sich mit Newton2 identifiziert, und Johann Wilhelm Möbius3, dem König Salomon aufsehenerregende Erfindungen diktiert."
(Kindlers Neues Literaturlexikon)

  1. Physiker,

  2. Physiker und Mathematiker,

  3. eigentlich August Ferdinand Möbius (1790-1868), Mathematiker.

Es ist fast ein Unding, was im Deutschunterricht

(das ist kein Vorwurf!: mangels mathematischer Kenntnisse der DeutschlehrerInnen)

allerdings durchaus üblich ist: "Die Physiker" durchzunehmen,

Vielmehr wäre zu untersuchen, inwieweit typisch mathematisches Denken in die Komödie eingeht.

Und dennoch

(deshalb oben "es ist fast ein Unding"):

die Komödie handelt kaum von den ursprünglichen Ideen Einsteins, Newtons und Möbius´ - und soll deshalb hier nicht weiter behandelt werden.


Seit Ewigkeiten suche ich nach einer Möglichkeit, im Mathematikunterricht "richtige" Bücher statt der üblichen Mathe-Schulbücher (vgl.   ) zu behandeln, um die Mathematik in kulturelle Kontexte zu stellen.

Gedacht hatte ich dabei immer an populärwissenschaftliche Bücher über Mathematik (und Physik) à la

Mit Mathematikromanen war ich ja nie so recht zufrieden, weil

(vgl. etwa : angeblich darf man den Menschen ja keine mathematischen Formeln zumuten)

(vgl. etwa : ein Buch, in dem tatsächlich andauernd Lehrstunden stattfinden)

Da ist mir jedes ehrliche Mathefachbuch doch lieber.

Die besten "Romane" scheint mir noch immer zu sein:

Hans Magnus Enzensberger: Der Zahlenteufel; Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor Mathematik haben; dtv

 Apostolos Doxiadis: Onkel Petros und die Goldbachsche Vermutung; Lübbe

... ein Roman, in dem das Ringen um typisch mathematische Begriffe tatsächlich zum Handlungsmovens wird - allerdings mit dem Nachteil, dass die Goldbachsche Vermutung nun wahrhaft kein (ergiebiger) Schulstoff ist.


Beide Buchgattungen schienen mir also einseitig:

(wie sollte man sie behandeln:


Gesucht ist also ein Buch,

Das gesuchte Buch darf aber nicht nur literarischer Aufhänger dann letztlich doch nur für die übliche Mathematik, also bloßer Köder sein

(etwa so, wie Lateinlehrer, wenn sie mal richtig knallemodern sein und richtig echten Lebensbezug ihres Faches beweisen wollen, Asterix auf Latein durchnehmen - aber oft zeitgenössische Anspielungen und überhaupt das Genre [igitt!] Comic übergehen):

"Liebe SchülerInnen, hier habt ihr einen spannenden Krimi über Newton. In ihm kommt Newtons Mathematik zwar gar nicht oder nur peripher vor, aber die schieben wir dann hinterher [in konventionellem Mathe-Unterricht] nach."

Bzw.:

"Liebe SchülerInnen, die Handlung und Machart des Romans interessiert uns eigentlich gar nicht, sondern sucht bitte alle mathematischen Passagen heraus - und lernt sie wie gehabt."

Ungeeignet wäre der Roman also, wenn es über ihn hieße:

"Dass der Roman »ebenso amüsant wie spannend erzählt« sei, [...] kann ich nicht bestätigen. Für lange, kalt-finstere Winterabende ist er aber allemal besser geeignet als ein Sachbuch über Newtons Physik [und Mathematik]."

Sondern der Roman müsste im besten Falle

(womit er allerdings noch nur ein Geschichtsbuch wäre)

Ebenso wenig darf (wie oben schon gezeigt) der Name "Newton" nur literarischer Aufhänger sein, d.h.

(Ich bin allergisch gegen [die allermeisten] historische Romane, die nur mit berühmten Namen spielen, aber nicht ernst nehmen, warum jemand berühmt geworden ist - nämlich Wissenschaftler letztlich allein wegen ihres wissenschaftlichen Werks. Oder: kein Schwein würde sich heute mehr für das Liebesleben Goethes interessieren, wenn er nicht bedeutsame literarische Werke geschrieben hätte.

[Dabei bin ich durchaus für literarische Freiheit! - denn sonst wäre ein Roman ja nur ein verkapptes Geschichtsbuch bzw. ein platter Schlüsselroman der Gegenwart.])

Anders gesagt: es müsste ein "richtiger" (verbesserter) Unterricht im Fach Deutsch und im Fach Mathematik möglich sein, und zwar nicht parallel

(ein Deutschlehrer unterrichtet das Literarische, ein Mathematiklehrer das Mathematische an dem Buch, aber beide Unterrichte hätten außer dem Namen "Newton" nichts gemein),

sondern in permanenter wechselseitiger Ergänzung

(derselbe Deutsch- und Mathelehrer [also ich] bzw. echtes "Teamteaching").

Was idealiter zu erwarten wäre:
  • die Lektüre des Romans bereichert tatsächlich die Mathematik, es entsteht eine andere Mathematik - oder sie wird sogar besser verstanden

(man versteht - so behaupte ich mal - die Newtons Mathematik besser, wenn man weiß, aus welcher Gedankenwelt und Biographie sie stammt),

  • der Roman ist nicht verständlich ohne die Mathematik, die in ihm enthalten ist bzw. auf die zumindest angespielt wird

(man versteht die Person Newtons nicht wirklich, wenn man nicht seine Wissenschaft bzw. zumindest seine wissenschaftliche Denkweise versteht).


Ich bleibe mal beim Beispiel eines Newton-Krimis: die Spannung müsste

(und da hat ein Roman - im Rahmen historischer Belege - erhebliche Freiheiten, da Newtons Gedankengänge wohl kaum mehr bekannt sind),

(weil Newton nunmal als einer der Urheber neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit gilt)

einfach nur simpel "logisch" à la Sherlock Holmes sein dürfte, denn dann könnte man ja in der Tat Newton durch Sherlock Holmes ersetzen.

Allerdings ist Newton wohl ein besonders schwieriger "Patient":

  1. wegen der historischen Distanz
     

(überhaupt scheinen Menschen der Frühneuzeit für uns heute ja oftmals unnahbar zu sein; vgl. etwa );

  1. , weil gerade Newton wohl ein besonders unnahbarer Mensch war.

Aber genau das könnte ja auch poetischen Freiraum ermöglichen.


Den Newton-Krimi gibt´s ja in der Tat, und überhaupt erst durch ihn bin ich auf diese Gedankengänge gekommen:

London 1696: Der berühmte Mathematiker, Physiker und Astronom Isaac Newton bekommt die Aufsicht über die Königliche Münzanstalt und bekleidet damit das zweit höchste Amt in der im Tower gelegenen Münze. Doch seine Hoffnung auf einen ruhigen, lukrativen Posten schwindet, als aus dem Festungsgraben des Towers eine Leiche gefischt wird. Newton glaubt nicht an einen Unfall. Mit scharfem Verstand und naturwissenschaftlichen Methoden untersucht er den Fall.

Dabei bin ich mir bewusst, dass dieser Roman wohl kaum mehr als ein historischer Krimi sein will. Aber das reicht doch schon, damit wären interessante literaturwissenschaftliche Perspektiven möglich, nämlich z.B.

Aber ich bin gerade mitten in der Lektüre und kann noch nicht beurteilen, ob dieser Krimi meine Kriterien erfüllt.

Bislang nur so viel:

  1. ist der Roman in der Tat ein bisschen nach dem Vorbild der Sherlock-Holmes-Bücher von Arthur Conan Doyle gestrickt: da gibt es den großen Detektiv (hier Newton):

("[Newton]: «Ist das kein Pulverfleck, dort auf Eurer rechten Hand?»
«Doch, Sir. Und Ihr habt Recht. Ich weiß den Karabiner und die Pistole einigermaßen zu gebrauchen.»
«Aber ich wette, mit der Pistole seid Ihr besser.» «Habt Ihr das auch von meinem Bruder?»
«Nein, Mister Ellis. Das sagt mir Eure eigene Hand. Ein Karabiner hätte seine Spuren auf Hand und Gesicht hinterlassen. Eine Pistole dagegen nur auf dem Handrücken, was mich zu der Vermutung brachte, dass Ihr die Pistole öfter benutzt habt.»")

und seinen gelehrigen Schüler (hier einen gewissen Ellis).

Solche Nachahmung (und Variation?) der Sherlock-Holmes-Tradition ist dabei ja noch kein Vorwurf, sondern

  1. hat der Assistent des großen Meisters natürlich den Vorteil, sozusagen Sprachrohr des "dummen" Lesers zu sein, der immer Fragen stellt und dem alles erklärt wird

(womit solche Romane allerdings oftmals besserwisserisch sind und der Leser eben als dumm verkauft wird: man wird das Gefühl nicht los:

Am Anfang des Romans sagt der Assistent, dass er Newtons Denkweise (Methode) lernen möchte, und die wird dann auch prompt (wenn auch noch sehr allgemein) definiert:

"[Ellis:] «Aber verzeiht, Sir, könnte es nicht sein, dass Mister Macey eher als Opfer zu beklagen denn als Übeltäter zu verurteilen wäre? Ihr sagtet doch selbst, es sind skrupellose Männer, mit denen Ihr zu tun habt. Könnte es nicht sein, dass er ermordet wurde?»
[Newton:] «Könnte sein? Könnte, Sir? Das war vor sechs Monaten, als ich mich noch an diesem seltsamen Ort zurechtzufinden suchte. Und nach einer solchen Zeitspanne kann ich keine Hypothesen aufstellen. Die beste und sicherste Art der Forschung scheint mir nämlich zu sein, dass man zunächst gewissenhaft die Fakten ermittelt und später dann mit einiger Vorsicht zu Hypothesen übergeht, die sie erklären können. Was geschehen oder nicht geschehen sein könnte, kümmert mich wenig. Bei der Untersuchung von Mysterien und schwierigen Dingen sollte die Analyse der Interpretation stets vorangehen.
Das ist meine Methode, Mister Ellis. Sie zu kennen heißt, mein Wesen zu begreifen, Sir. Doch Eure Fragen ehren Euch. [...] macht meine wissenschaftliche Methode zu Eurem allerersten Studiengegenstand, denn sie wird Euch zustatten kommen, und dann werden wir beide uns prächtig verstehen.»
«Ich werde Euch und Eure Methode gewissenhaft studieren, Sir», sagte ich."

... womit das Programm des Romans dann ja steht.

Die rot gesetzte Passage ist natürlich ein verkappte Form von Newtons berühmtem (und allemal fraglichen) Satz "Hypothesis non fingo" ("Ich stelle keine Hypothesen auf").

Bleibt das Buch dabei, einzig und allein in Newtons physikalischem oder auch kriminalistischen Vorgehen sein "Wesen" zu erkennen - oder werden auch zeitgenössische und biographisch-charakterliche Hintergründe

(die über Newtons sprichwörtliche Fremdheit gegenüber Frauen hinausgehen)

dieses "Wesens" deutlich?


Inzwischen habe ich den Roman komplett gelesen: er bleibt ein netter Krimi, leistet aber nicht, was ich oben von einem "mathematischen Roman" gefordert hatte. Nachweise spare ich mir hier.

Ich suche weiter nach einem (überhaupt erst zu schreibenden) "mathematischen Roman".

Vielleicht aber ist

eine Alternative:

"Es wäre interessant, einen Zugang dazu zu haben, wie sein [Newtons] Bewußtsein sich damals faltete und entfaltete. Seine Papiere allein sind dabei wenig aufschlußreich. Introspektion ist selten darin zu finden. Aber das Hervortreten einer überragenden Intelligenz regt unsere Phantasie an. Newtons Biographen stimmen darin überein, daß dieser Mann über ungewöhnliche Konzentrationskraft verfügte und ein Problem, wie Lord Keynes einmal bemerkte, wochen- und monate- und jahrelang in seinem Geist festhalten konnte, bis es schließlich aufbrach und seine Geheimnisse preisgab. Diese beharrliche und ausdauernde Fähigkeit zur gezielten Ausrichtung des Geistes ist in Teilen der gemeinsame Besitz von Mathematikern und Mystikern. Wie es auch gewisse Erfahrungen des Unendlichen sind. Schließlich haben Mystiker seit unvordenklichen Zeiten von einer ekstatischen Kommunion mit dem Grenzenlosen geschrieben. Ihre Beschreibungen gehören zu den Schätzen der Menschheit. Und sie sind alle gleich. Ein Regen badet jene leidend trockenen Wurzeln. Die Leiden des Selbst verflüchtigen sich in einer heilenden großen Leere. Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt verliert sich. Die Nervenenden knospen hervor und beginnen zu zittern. Und dann schwindelt der Seele, als sie von der Unendlichkeit umfangen wird. Danach versagen alle Fähigkeiten zur Übermittlung, und der Mystiker, in seinen Körper zurückgekehrt, ist nur noch in der Lage, eine Hand mit gespreizten Fingern auf sein brennendes Herz zu legen und mit ausgestrecktem Finger auf ferne Himmel zu weisen."


Vgl. auch