wir sind stolz

Es gibt (vor allem in "Sachtexten") zwei Formen von "wir":

  1. die vereinnahmende Form, also etwa nach dem Motto: "wir sind uns doch wohl alle einig, und wer nicht mit uns (mir) einig ist, ist dumm"

(SchülerInnen hören leider meistens nur diese erste Form heraus);

  1. die Form, die einen freundschaftlich am Arm nimmt und gemeinsam ein Wissensgebiet erkundet.


*

"Wir" beinhaltet immer

  • das sprechende Ich

  • und noch mindestens einen anderen:

  1. Möglichkeit:

wir = ich + mindestens ein anderer,

aber nicht die angesprochene Person (der Leser),

  1. Möglichkeit:

wir = ich + die angesprochene Person

(+ evtl. noch weitere Personen).

Im 1. Fall ist die angesprochene Person (der Leser) also ausgeschlossen

(sie/er steht allein einer größeren Gruppe gegenüber),

im 2. Fall ist sie mit eingeschlossen.


In seinem Buch

(vgl. Bücher des Monats 10/2007)

spricht der Autor Philip Ball nur über einen ganz kleinen (und doch grandiosen!) Ausschnitt aus der Teil-Wissenschaft Chemie, und an einer Stelle zeigt er besonders deutlich, wie irrwitzig weit sie inzwischen fortgeschritten ist:

"Wir können im wahrsten Sinne des Wortes zuschauen, wie zwei Moleküle einander begegnen und miteinander reagieren. Wir betreiben chemische Chirurgie an Molekülen, schneiden sie auseinander oder beringen neue funktionelle Gruppen an. Wir beobachten das Blinken eines fluoreszierenden Moleküls bei der Absorption und Emission einzelner Photonen. Wir messen, wie sich Bindungen bilden, wie sie aufbrechen und wie fest sie sind [...]. Wir folgen den Bewegungen der Moleküle auf Zeitskalen, die für derart kleine Objekte angemessen sind. Wir betrachten eine chemische Bindung bei Schwingungsbewegungen, die viele Milliarden Mal pro Sekunde erfolgen."

Wer ist da "wir"?:

  1. Das "wir" impliziert laut * anscheinend auf jeden Fall das Ich, also den Autor Philip Ball.

Aber bereits das ist hier zweifelhaft: zwar ist Philip Ball gelernter Chemiker, inzwischen aber Wissenschaftsjournalist, was doch zur Folge hat, dass er

  1. Im "wir" enthalten sind aber sicherlich all jene Chemiker, die aktiv das tun, was Ball in seinem Zitat nennt.

Aber auch das setzt gleich Probleme: weil die Chemie, wie alle anderen Wissenschaften auch, längst in höchst spezialisierte Teildisziplinen zerfallen ist, wird kein Chemiker all die Tätigkeiten durchführen, die Ball in seinem Zitat nennt.

  1. Völlig ausgeschlossen scheint hingegen auf den ersten Blick, dass das "wir" auch den Leser des populärwissenschaftlichen Buchs umfasst, denn dieser Leser wird in der Regel ein (das wird noch wichtig: interessierter!) chemischer Laie sein, und garantiert hat er noch nie eine der in dem Zitat genannten Tätigkeiten durchgeführt.

Es scheint also (wieder: auf den ersten Blick) der o.g. 1. Fall vorzuliegen, bei dem der Leser regelrecht aus dem "wir" ausgeschlossen (ein hoffnungsloser Dummerjan) ist und diesem "wir" einsam gegenübersteht.

Schon A. und B. zeigen, dass im Zitat ein ganz besonderes, sozusagen virtuelles "wir" vorliegt - das dann (so höre ich es zumindest heraus) eben doch auch den Leser mit umfasst:

  • "wir" = "die Gemeinschaft der Gläubigen" bzw. Interessierten!

  • "wir" = "der menschliche Geist", also das, was prinzipiell jeder Mensch könnte,

  • "wir" = die kollektive Leistung aller früher und jetzt lebenden Menschen zusammen.

(Stolz ist nie von Dankbarkeit sowohl gegenüber großen Vorgängern als auch gegenüber großen Zeitgenossen trennbar:

  • "Wenn ich etwas weiter sah als andere, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand." [Isaac Newton]

  • "Wir sind wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen; deshalb können wir mehr und weiter sehen, aber nicht dank der Schärfe unseres Blicks, sondern weil wir höher sitzen und von Männern von gewaltiger Statur getragen werden." [Bernhard von Chartres])

Ein Beispiel aus einer ganz anderen wissenschaftlichen Ecke: man kann die "kopernikanische Wende" natürlich auch als Erniedrigung "des" Menschen empfinden, der in weiterer Folge dieser Wende zum Staubkorn am Ende des Weltalls degradiert wurde.

Die frühneuzeitlichen Wissenschaftler haben es aber ganz anders, ja genau umgekehrt gesehen: "der" Mensch wurde erhöht, weil er in der Lage war, das göttliche Uhrwerk (ansatzweise) zu verstehen.

Auf das aber, was prinzipiell jeder Mensch kann, bzw. auf die kollektiven Leistungen aller (auch Vorgänger-)Menschen zusammen können wir (alle!) potentiell wirklich stolz sein!


"Potentiell", weil man das Recht, stolz zu sein, nicht automatisch mit der Muttermilch erhält, sondern es sich erwerben muss.

Ein Beispiel:

"Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein."
"Worauf bist du da z.B. stolz?"
"Z.B. auf Goethe."
"Hast du irgendwas von Goethe gelesen, möchtest du Texte von ihm kennenlernen?"
"Nö."
(vgl. )

Immerhin scheint dieser Superstolze doch noch die - so Peter Rühmkorf - "singuläre Größe" Goethes anzuerkennen. Oftmals passt dieser Stolz aber paradoxerweise auch bestens zusammen mit einer Totalablehnung Goethes ("was soll dieser uralte Scheiß?!").

Und dann hat dieser Superstolze eben kein Recht mehr, auf Goethe (und - was immer das sei - das "Deutschsein") stolz zu sein!

Er muss ja nicht gleich "Goethe" lesen, aber er sollte ihn doch immerhin respektieren

(ich kann problemlos anerkennen, dass Miles Davis ein erstklassiger Jazzmusiker war, auch wenn ich wenig mit Jazz "anfangen" kann).

Und wer sich wirklich (auch laienhaft) interessiert, wer mehr wissen will, darf auch stolz sein!

(Bzw. man kann und darf nur dann auf etwas stolz sein, wenn man darin immerhin ein bisschen eigene Energie "investiert" hat. Bzw. dann kann man höchstens dankbar sein.)

"Ohne auch im mindesten den Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an den Sinn des Besseren und Weisen jedes Zeitalters zu fassen. Schande über einen Künstler [und jeden Laien, der die Möglichkeiten dazu hat], der es nicht für seine Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen."
(Ludwig van Beethoven)


Nun hakt aber der Vergleich mit "ich bin stolz, ein Deutscher zu sein": Wissenschaft (wie überhaupt alle überragende menschliche Leistung) ist prinzipiell übernational-kosmopolitisch:

Und deshalb darf es da

  • nie "ich bin stolz, ein Deutscher/Engländer/Franzose ... zu sein" heißen

(weshalb auch kreuzfalsch ist),

  • sondern immer nur "ich bin stolz, ein Mensch (»wir«) zu sein".

Ist es wirklich nötig, noch hinzuzufügen, dass "wir" Menschen wahrhaft nicht auf all unsere Leistungen (?) stolz sein können?